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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

sie den Muth nicht besäßen, sich auf diesem halb verlorenen Posten zu behaupten. Von dem Glück und der unerschütterlichen Zuversicht, die gerade ein fester Gottesglaube zu verleihen imstande sei, kam er wieder auf den Ausgangspunkt seiner Rede zurück: „Helft, ach helft mir, das Haus zu bauen! Steht mir bei, die Stadt zu behüten!“ – –

Das letzte Gebet war gesprochen, das letzte Amen verhallt – nun setzte ein gut geschulter, vielstimmiger Kinderchor mit einem schönen, einfachen Kirchenlied ein. Wie Jubel klangen die hellen, jungen Stimmen, und durch die weit geöffneten Thürflügel des Gotteshauses fluthete ein breiter Strom freudigsten Sonnenscheins.

Annie Gerold hob die Wimpern, an denen schwere Thränen hingen, zu ihrem Nachbar empor; er hatte ein schönes, ernstes Lächeln auf seinem Gesicht und sah ihr tief in die Augen.

„Haben Sie Dank!“ sagte er leise. „Sie waren es, die mich hierhergeführt, und ich kann diese Stunde niemals vergessen. Sie hatten recht, als Sie meinten, mir könnte heute das begegnen, wonach ich lange vergebens gesucht. Ich habe heute den klugen und frommen Priester gefunden, von dem ich Ihnen sprach, und ich habe mich selbst wiedergefunden und den Glauben an meine Zukunft und mein Glück.“

Er drückte ihr leise die Hand, dann wandte er sich ab und verlor sich unter der hinausstrebenden Menge; Annie wartete noch eine Weile, bis das Gedränge sich abgeschwächt hatte. Als sie vor das Portal trat, sah sie Ego regungslos mitten auf dem Lukasplatz liegen, den klugen Blick unverwandt auf die Kirchenthüren gerichtet. Als er Annie gewahrte, wedelte er leicht mit dem Schweif, zum Zeichen, daß er sie wiedererkenne, zugleich rief ein leiser, wohlbekannter Pfiff ihn ab. Professor Delmont war aus einer der Seitenthüren getreten und ging jetzt, von Ego begleitet, davon, Annie aber sah sich plötzlich von verschiedenen Freundinnen und Herren umringt, die alle lebhaft auf sie einsprachen:

„Wie hat Ihnen denn die Predigt gefallen, gnädiges Fräulein?“

„Ich dachte, er würde poetischer sprechen!“

„Gerade gewählt oder elegant war es nicht, aber es ging doch zu Herzen, sollte ich meinen!“

„Ich fand es sehr hübsch!“

„Nein, zu komisch, daß ein solcher Mensch Pfarrer geworden ist! Und mit dem Gefängnißprediger hat’s wirklich seine Richtigkeit – weißt Du das auch schon, Annie?“

„Ich hörte. er soll jetzt einen zum Tode Verurtheilten vorzubereiten haben!“

„Schrecklich! Gräßlich! Nein, das glaube ich nicht!“

„Schönen guten Tag, meine Damen und Herren!“ ließ sich die Stimme des Lieutenants von Conventius hören. „Nun, lassen Sie meinen Vetter nur noch am Leben, er könnte am Ende noch so mancherlei Gutes wirken! Daß Sie ihn gleich unter der Kirchenthür zerzausen, finde ich nun nicht reizend. Fräulein Gerold geht es genau ebenso wie mir, ich lese es ihr an den Mienen ab. Habe die Ehre, meine Gnädige! Werde mir in zwei Stunden die Freiheit nehmen, mit ein paar Kameraden bei Ihnen vorzusprechen. Empfehle mich bis dahin!“

Die Offiziere nahmen die Hacken zusammen und grüßten rechts und links; dann verstreute sich die ganze Gesellschaft vor der Kirche. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Thekla Gerold wartete mit einem guten zweiten Frühstück auf ihre Schwester; sie war eigentlich verstimmt, es hatte sich so schön studiert und gelesen heute; trotz der schlecht verbrachten Nacht war ihr Geist hell und ihre Auffassung besonders rasch, das ward ihr nicht alle Tage zu Theil. Oft hing sich ihr kranker Körper wie ein unerträgliches Bleigewicht an sie und hemmte den Aufschwung ihres Geistes. Nun kam die biedere Agathe und riß sie ohne weiteres aus ihrem schönen Verkehr mit Helmholtz, Hartmann und anderen großen Geistern heraus, erinnerte sie, daß das Vögelchen bald aus der Kirche kommen werde und daß sie beide etwas essen müßten, daß Fräulein Thekla noch nicht Toilette gemacht habe, was doch unbedingt nothwendig sei, denn man erwarte ja Besuch, und drüben wäre schon alles in schönster Ordnung.

Mit einem schweren Seufzer und einem recht ungnädigen Gesicht packte Thekla ihre Bücher zusammen. Frau Agathe Lamprecht sah sie bloß von der Seite an und sagte kein Wort weiter; sie kannte ihre Leute. Wenn Fräulein Gerold so aussah wie eben jetzt, dann hatte sie ihren „gelehrten Turnus“, wie Agathe das nannte, und wünschte alles, was kein Buch war, ins Pfefferland. Schweigend half die getreue Alte der gebrechlichen Gestalt aus dem Morgenkleid heraus und in ein schwarzes Seidengewand hinein, das einfach im Schnitt, aber vom besten Stoff und mit einem Kragen von wunderschönen Brabanter Spitzen geschmückt war. Agathe brachte noch eine prachtvolle Brosche, aus einem riesigen Opal bestehend, der einzige Schmuck, den Thekla liebte, „weil er wie ein Menschenantlitz seinen Ausdruck wechsele“.

„Nun, alter Oberhofceremonienmeister! Sind Sie mit mir zufrieden?“ Die gelehrte Dame musterte ihr Konterfei im Spiegel mit humoristischem Behagen. „Die Herren Ulanen werden eine unbändige Freude an mir erleben. Ich sehe aus wie ein kranker Chinese, der sich aus Versehen in eine europäische Damentracht hineinverirrt hat. Daß man sich auf seine alten Tage nicht mal Ruhe gönnen darf und sich zum Narren machen muß wie ein abgerichteter Affe!“

Solche Auslassungen gönnte sich die Kranke nur vor Agathens Ohren, das Vögelchen bekam nie etwas davon zu hören. Sie hatte es übernommen, für das Kind zu sorgen, ihm ein angenehmes Dasein, wie es seiner Jugend und Schönheit zukam, zu sichern, und sie liebte Annie zärtlich, … folglich gab sie sich zu allen Dingen her, die der sogenannte gute Ton und die Geselligkeit von ihr verlangten, gab kleine und große Feste, nahm Visiten entgegen und verkehrte mit einer Menge von Leuten, die ihr im Grund der Seele so gleichgültig waren, als lebten sie auf dem Sirius. Das Vögelchen bekam höchstens dann und wann eine sarkastische Aeußerung zu hören, nie aber eine Klage, daß alle diese Dinge für Thekla nur eine Last, eine unangenehme Unterbrechung ihrer Studien wären.

„Fräulein sehen wohl und sehr gut aus!“ sagte Frau Lamprecht, von dem Bestreben beseelt, die Laune ihrer Dame ein wenig aufzubessern.

„Die Venus von Milo ist nichts dagegen!“ spottete Thekla. „Nun rasch zurück ins Speisezimmer, ich denke, die Kleine ist schon zurückgekommen!“

So war es in der That, und auf den ersten Blick gewahrten Theklas scharfe Augen, daß „ihrem Kinde“ irgend etwas Aufregendes begegnet sein mußte. Sie hatte Annie selten so schön gesehen, und nun steckte ihr zum Ueberfluß Agathe noch zwei herrliche, eben aufgeblühte purpurrote Rosen an die Brust – „Lamprecht hat sie für Vögelchen gebracht, sie waren soeben im Gewächshause aufgebrochen.“

Die Alte ging, mit einem letzten bewundernden Blick auf ihr Kleinod; die Schwestern waren allein, Annie sagte kein Wort und sah glücklich lächelnd vor sich hin, Thekla betrachtete sie kopfschüttelnd und begann. nach einer kleinen Weile in sanftem Tone:

„Iß und trink jetzt, Kleine, Du hast später keine Zeit dazu!“

Annie trank gehorsam von dem spanischen Wein und nahm ein belegtes Brötchen in die Hand.

„Wie schön die Sonne scheint!“ sagte sie träumerisch.

„Ja, das thut sie, und noch dazu über Gerechte und Ungerechte! Könntest Du es vielleicht über Dich gewinnen, mir einiges über die Predigt mitzutheilen?“

Das junge Mädchen fuhr verwirrt empor und erröthete bis unter die Stirnlocken. „Ach, Thekla, nein, was Du von mir denken mußt! Es war wundervoll in der Kirche, Conventius hat so wahr, so einfach, so schön gesprochen, ich wollte, Du wärst dabei gewesen!“

„Ich auch!“ pflichtete Thekla bei. „Schon, um festzustellen, ob es nur die Predigt allein war, die Dich so ungewöhnlich bewegt hat!“

„Ich? Ungewöhnlich bewegt? Nicht daß ich wüßte!“

„Nicht? Entschuldige doch! Ich dachte, Leute, die eben aus der Kirche kommen, sprächen die lauterste Wahrheit!“

Statt der Antwort lief Annie auf die Schwester zu, umschlang sie mit beiden Armen und drückte ihr warmes, rosiges Gesichtchen an die fahle Wange der Kranken. Thekla fühlte das rasche, heftige Schlagen des jungen Herzens, und eine weiche, mitleidige Stimmung bemächtigte sich ihrer; sie küßte Annie zärtlich auf Stirn und Augen.

„Kleines, liebes Vögelchen, macht es Dich denn so sehr glücklich?“

Annie nickte nur, dann aber löste sie sich rasch aus der Umarmung und begann von Reginalds Predigt zu erzählen, sehr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_650.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)