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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

der Thür auf einen Stein setzte und in die Nacht lauschte. Wohl eine Stunde mochte ich so zugebracht haben, ein leises Frösteln zog durch meinen Körner, als ich plötzlich einen langen, klagenden Pfiff hoch über mir vernahm. Der Laut wiederholte sich; ich errieth den Urheber, es war ein Regenpfeifer, der seine luftige Morgenpromenade machte. Gleichzeitig fühlte ich meine Schulter berührt. Bjarne stand neben mir und hielt mir einen Becher Toddy entgegen. Wieder der unvermeidliche Toddy! – aber ich nahm und trank ihn; denn es war ja das einzige Warme, was ich heute zu erwarten hatte.

Eine halbe Stunde darauf befanden wir uns auf der Wanderung über das Hochfjeld, ohne Weg und Steg in der Richtung, wo ich bei Tage die schneegekrönten Bergriesen gesehen hatte. Ueber Steingeröll, durch Moräste, Sümpfe und hohes, verfilztes Heidekraut führte uns Bjarne. Es war zum Erstaunen, wie der lahme, schier verkrüppelte Mensch noch ausschreiten konnte, sodaß wir Mühe hatten, ihm auf dem überaus mühseligen Marsch zu folgen. Endlich, – im Osten hellte sich’s bereits mehr und mehr auf – machten wir in einer Bodenvertiefung Rast. Zuerst wurde der phosphoresrirende Schein der Gletscherfelder deutlicher sichtbar, dann traten die Bergkuppen erkennbar hervor, und endlich floß eilt bleifarbenes Licht über die Landschaft, die sich in ihrer schaurigen Oede in unabsehbare Fernen hinstreckte.

Bjarne wandte sich an meinen Gefährten.

„Schlecht Wetter giebt’s!“ sagte er, „Regen oder Schnee, je nachdem der Wind sich dreht. Kommt das erste, dann ist’s mit unserer Jagd am Ende!“ – Damit stand er auf und winke uns, ihm zu folgen.

Vorsichtig, in halbgebückter Haltung ging es weiter. Wir ließen jetzt die Schneefelder links und wandten uns etwa parallel mit denselben nach einem großen Bruch, dessen grüne Farbe bereits deutlich gegen das braune Heidekraut abstach. Wir mochten uns demselben bis auf etwa zweitausend Schritte genähert haben, als Bjarne plötzlich stehen blieb und die Rechte uns Halt gebietend zurückstreckte. Dabei wurde seine Gestalt zusehends kleiner, er sank allmählich in sich zusammen, was wir richtig dahin deuteten, er sehe Wild vor sich; – wie er, so thaten auch wir.

Endlich lagen wir alle drei lang am Boden.

„Renthiere vor uns! – sechs an der Zahl,“ flüsterte der Normann. „Im Moor lagern sie, das Leitthier steht oben am Rande.“

Ich fragte B., was Bjarne gesagt habe. Er übersetzte mir die Worte, wurde aber sofort von jenem unterbrochen.

„Pst! – sprecht nicht, sondern folgt mir jetzt!“

Unser Führer wollte fort, aber mein Reisegefährte bedeutete ihn, noch einen Augenblick zu verweilen. Er holte seinen vortrefflichen Feldstecher aus dem Etui, hob sich auf den Knieen und blickte durch das Glas, woraus er es kopfnickend mir gab. Ich folgte seinem Beispiel und konnte gleich danach einen Ausruf der Bewunderung nicht unterdrücken, der dem scharten Auge des Norwegers galt. Ich hatte mir daheim auf die Schärfe des meinen etwas eingebildet, hier hatte mich dasselbe jedoch gänzlich im Stiche gelassen.

Das Renthier ändert die Farbe der Decke nach der Jahreszeit. Während dieselbe zur Frühlingszeit fahlgrau erscheint und von dem schmutzigen, schmelzenden Schnee kaum unterschieden werden kann, wachsen im Winter viele weiße Haare dazwischen. Jene fahle, graue, ins Bräunliche gehende Färbung macht es dem Thiere leicht, sich in dem braunen Heidekraut, in den Morästen und auf dem dunklen Gestein zu verbergen. Anfänglich sah ich selbst durch das Glas nur das Leittier mit seinem mächtigen zackigen Geweih. Dasselbe stand gleich einem einsamen Posten auf einem weit überragenden Punkt unbeweglich da. Erst nach längerem Suchen gelang es mir, das Rudel zu finden, welches, aus fünf Stücken bestehend, mitten im Moor ruhte und sich jedenfalls der angenehmen Beschäftigung des Wiederkäuens hingab.

Bjarne hatte mit einem Blick die Sachlage erkannt und danach seinen Plan eingerichtet. Auf allen Vieren, die Büchsen vorsichtig neben uns herschiebend, wandten wir uns nach rechts. Mehrere hundert Schritt mochten wir so vorwärts gekommen sein, als der Normann geradeswegs auf das Wild zubog; wir folgten seinem Beispiel. Indem ich ein wenig meinen Kopf hob, sah ich in gerader Richtung vor uns mehrere große Felsblöcke über dem Heidekraut. Gelang es uns, diese, unbemerkt von dem Leittier, zu erreichen, so waren wir in guter Büchsenschußweite von dem ganzen Rudel.

An den Boden gepreßt gleich dem Indianer, der den Feind in der Prairie beschleicht, krochen wir weiter, jetzt einer hinter dem andern in einer Linie – Bjarne voran. So gelangten wir glücklich hinter jene Deckungsmittel und machten nun auf einen Wink unseres Führers die Büchsen schußfertig. Letzterer zog mich nach rechts, während er B., von dem er wußte, daß er bereits wiederholt Renthierjagden mitgemacht hatte, bedeutete, um die linke Ecke der Felsen seinen Schuß abzugeben.

Es war verabredet, daß ich zuerst feuern sollte, und zwar auf das Leitthier. In der Gewohnheit der Rentiere liegt es, nach dem ersten Schuß, ehe sie sich der Gefahr ganz klar werden und fliehen, erschreckt auf derselben Stelle, auf der sie gelegen haben, aufzuspringen und stehen zu bleiben, sodaß die andern Jäger gut Zeit haben, ihrerseits eine Kugel anzubringen, was bei dem lagernden Wild infolge der gleichmäßigen Farbe ihrer Decke und der Umgebung äußerst schwierig ist. Um ganz sicher zu gehen, hielt Bjarne mich anfänglich zurück, damit er zuvor selbst noch Auslug halte. Zoll um Zoll schob er sein verwettertes Gesicht hinter dem Stein vor, plötzlich aber schnellte er wie eine Feder empor, riß die Büchse an die Backe, und im nächsten Augenblick knallte sein Schuß über die einsame Heide.

„Jerf!“ Das war das einzige Wort, womit Bjarne uns sein Thun erklären wollte; dann rannte er spornstreichs nach dem Moor hinunter, sodaß wir Mühe hatten, ihm zu folgen.

Die Renthiere waren verschwunden wie von der Erde verschlungen. Während wir uns an sie heranpürschten, waren sie, unbemerkt von uns, flüchtig geworden, und die Ursache, die unsere Jagd mißglücken gemacht hatte, hob eben der Normann in Gestalt eines schwarzen Thieres aus einem Gewirr von kaum fußhohen Zwergbirken empor. Es war ein Vielfraß, den seine Kugel niedergestreckt hatte, ein stattlicher Bursche von wohl drei Fuß Länge – das von den norwegischen Jägern bestgehaßte Raubtier. Vor ihm hatten die Rentiere die Flucht ergriffen.

Der Vergnügteste von uns war Bjarne; bekam er doch neben dem Preis für das schöne Pelzwerk noch die Staatsprämie, die auf den Kopf des Jerfs gesetzt ist. Als ich das verhältnißmäßig keine Thier betrachtete, wollte es mir nicht recht in den Sinn, daß dasselbe imstande sein sollte, ein Renthier zu schlagen; allein ich wurde von meinen Gefährten eines andern belehrt.

Neben kleinerem Wild, als Schneehühnern und Alpenhasen, fällt der Vielfraß selbst Elenthiere und auf den Säters weidendes Vieh an, indem er seinen Opfern an den Hals springt und ihnen die Gurgel zerreißt. Bei der Unwirthlichkeit der Gegenden, in denen er sich aufhält, bei seinen scharfen Sinnen ist es selbst den geübtesten Jägern sehr schwer, seiner habhaft zu werden. Man fängt ihn in starken Drahtschlingen oder in verschiedenen Arten von Holzfallen, in die man ein Aas als Köder legt. Bjarne zeigte uns später in seiner Behausung mehrere solcher Fallen, die zum Theil Aehnlichkeit mit unsern Klappfallen zum Marderfang hatten, nur daß sie, der Körpergröße des zu fangenden Thieres entsprechend, auch größer waren.

Ich sollte keine Renthiere mehr zu Gesicht bekommen! Für heute hatte die Jagd selbstredend ein Ende, weil keine Aussicht vorhanden war, das einmal flüchtig gewordene Rudel von neuem anzupürschen. Außerdem bestätigte sich Bjarnes Ansicht über das Wetter. Dichte Nebelmassen thürmten sich über dem Hochfjeld, sie verwandelten sich in Regen, und wir mußten froh sein, nach einer überaus beschwerlichen Wanderung über das schlüpfrige Gestein, bis auf die Haut durchnäßt, die Hütte unseres Führers noch vor Abend zu erreichen.

Da das schlechte Wetter anhielt, stiegen wir zum Fjord hinab und dampften schon am nächsten Tage weiter. Wir hofften, später von Christiania aus Gelegenheit zur Renthierjagd zu haben, es wurde uns dieselbe auch von seiten der liebenswürdigen Bekannten meines Freundes B. geboten, allein wieder machte uns der Regen einen Strich durch die Rechnung. Es war mir nicht beschieden, ein stolzes Schaufelgeweih als Jagdbeute mit in die Heimath zu bringen, Nun, dafür hatte ich doch die Genugtuung, daß über mein Reisegepäck kein Mitreisender die Nase rümpfte!



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