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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

zu vertiefen, die gleichsam das Zwischenreich bildeten, jenseit des klar ergründenden Verstandes lagen, von den meisten Menschen als „Unsinn“ kurz abgefertigt und verspottet, von andern unklar empfunden, aber nicht offen anerkannt, von einigen wenigen als wichtiger Bestandtheil des Empfindungsdaseins betrachtet wurden. Frau Hedwig hatte ein brennendes Interesse für den Hypnotismus, sie erwies sich bei gelegentlichen Versuchen als ein vortreffliches Medium, und nur der ernste Machtspruch ihres Gatten, der behauptete, sie schade ihrer Gesundheit mit „solchem Zeug“, vermochte es, sie an einer eingehenden Beschäftigung mit dieser plötzlich in die Mode gekommenen Richtung zu verhindern. Robert Weyland behauptete scherzend, wäre er nicht gewesen, dann würde seine Frau längst als Somnambule hochberühmt, vielleicht sogar als staatsgefährlich in sichern Gewahrsam gebracht worden sein … die hübsche, blonde Frau ließ ihn ruhig spötteln und lachen. Es war ihr aber durchaus nicht wohl bei ihrer seltsamen Begabung, und sie hatte mehr als einmal lebhaft gewünscht, keinerlei Ahnungen, Vor- und Anempfindungen und ähnliche Zustände zu kennen, denn sie trübten ihr sonst so glückliches Dasein, umsomehr, als niemand in ihrem ganzen Freundeskreise den wunderlichen Zustand, in welchem sie sich oft halb wachend, halb träumend befand, begreifen konnte, sie daher alle ihre Gefühle und Erfahrungen auf diesem Gebiet streng in sich zu verschließen gewöhnt war. – Mit Annie hatte sie, so hoch sie deren Verstand hielt – vielleicht eben darum – auch nie darüber gesprochen. Annie war so heiter, klug und offenherzig – „klar und durchsichtig wie ein Thautropfen,“ sagte Frau Weyland von ihr – warum sollte sie ihre glückliche Jugend trüben, indem sie ihre Gedanken in einen Kreis lenkte, über dem ein so ungewisses, düsteres Halblicht lagerte? Zudem hatte Annie Gerold eine sehr scharfsinnige Schwester, die derartige Dinge bald durchschaut und sich jede Beeinflussung ihres „Vögelchens“ in diesem Punkt sehr entschieden verbeten haben würde. – Und gerade die schöne, reiche und verwöhnte, die glückliche und begabte Annie, Frau Hedwigs Liebling, war es, die sie jetzt so beunruhigte! Mit einer Bestimmtheit, für die es durchaus keine Handhabe gab, die sich aber um keinen Preis wegstreiten und leugnen ließ, fühlte … nein, wußte die junge Frau, daß ihrer geliebten jungen Freundin ein Unheil nahe, daß der Mann, dem ihr Herz sich widerstandslos ergeben, ihr zum Schicksal – zum traurigen Schicksal! – werden würde, und daß es kein Mittel gäbe, um dies abzuwenden! – Und vermöge dieser verhängnißvollen Feinfühligkeit wußte auch Frau Hedwig, ohne sich umzuwenden, wer plötzlich hinter sie getreten war; es hätte der leisen Bewegung im Publikum, des Flüsterns, Raunens und Auseinandertretens gar nicht bedurft – sie fühlte – er war gekommen!

Professor Delmont trat dicht neben Annie Gerold, und diese schrak heftig zusammen, wendete ihm ihr süßes, blasses, ergriffenes Gesicht zu, und so standen sie beide Auge in Auge, abgesondert, denn die Menge war vor dem Schöpfer des Bildes achtungsvoll zurückgewichen, und der „Engel des Herrn“ sah aus seinen wunderbaren Augen, die alles wissen und alles betrauern, auf sie herab.

Delmont las augenblicklich in Annies Zügen den großen Eindruck, welchen sein Gemälde auf sie hervorgebracht hatte, und ein stolzes Lächeln trat in sein Antlitz, es war kein Dünkel, sondern ein schöner, männlicher Stolz, der ihn gut kleidete.

„Wollen Sie mit mir kommen? Darf ich Ihr Führer sein?“ fragte er mit gedämpfter Stimme, und sie neigte glücklich und befangen ihr schönes Köpfchen; wie damals in der Kirche versank wieder um sie her die ganze Welt, als sie an seiner Seite die Nische verließ. Nach Hedwig Weyland sah sie sich kein einziges Mal um; sie hatte sie vergessen.

Die junge Frau hatte das kommen sehen und seufzte tief auf; viel zu sehr mit Annies Geschick beschäftigt, um sich persönlich gekränkt zu fühlen, sah sie den beiden nach und beschloß, gleich nach Hause zu gehen, da ihr der ganze Genuß an der Gemäldeausstellung verdorben war.

Wie sie sich jetzt dem Ausgang zuwandte, trat ihr Fritz von Conventius, der Ulanenlieutenant, entgegen. Dieser unternehmende junge Herr hatte sich von seinen Kameraden getrennt, um Fräulein Hedwig Rainer, seiner einstigen Tischnachbarin beim Weylandschen Fest, die mit einer gemüthlich aussehenden Mama gerade des Wegs daherkam, ein wenig den Hof zu machen. Das junge Dämchen sah so frisch und niedlich aus, daß es eine Herzensfreude war, sie zu sehen; ein freudiges Roth stieg in ihre Wangen, als sie der Mama den flotten Kavalier vorstellte, und diese, in dem schönen Bewußtsein, daß ihre Hedwig fünfzigtausend Thaler Vermögen habe und nach ihrem Belieben wählen könne, lächelte den hübschen Offizier ganz wohlwollend an und hatte gar nichts dagegen, daß er sich den Damen widmete. Das geschah denn auch eine ganze lange Zeit zu allseitigem Vergnügen, und als Fritz sich endlich von Mutter und Tochter verabschiedete, war ihm der scherzhafte Ausspruch Thekla Gerolds, diese Hedwig Rainer sei die richtige Frau für ihn, schon bedeutend näher gerückt. Annie hatte er von weitem mit Frau Weyland gesehen, wunderbarerweise noch ohne Herrenbegleitung … aber jetzt eben … bog sie dort nicht um eine Ecke und war der hochgewachsene Herr an ihrer Seite nicht dieser Professor Delmont?

Der Ulan strengte seine Augen an, es war doch wohl ein Irrthum, die Entfernung war ziemlich bedeutend! – aber da kam ja Frau Weyland allein ihm entgegen, die würde ihm Aufklärung geben können.

„Meine gnädigste Frau, ich schätze mich glücklich! Darf ich mich nach Ihrem und der werthen Ihrigen Befinden erkundigen?“

„O danke, wir sind alle ganz wohlauf! Sie wollten mich etwas fragen, Herr Lieutenan?“

„Was ich für ein ausdrucksvolles Gesicht haben muß!“ dachte Fritz etwas verdutzt. Laut sagte er:

„Ja – hm – allerdings – Sie waren doch, wenn ich mich nicht irre, in Fräulein Gerolds Gesellschaft, meine Gnädige –“

„Ganz recht! Sie ist mir aber von Herrn Professor Delmont entführt worden!“

„Also doch! Dieser Mensch hat einen verblüffenden Treffer auf sie, und mein armer Reginald – Verzeihung! – ich bin im Begriff, eine ungeheure Dummheit zu sagen.“

„Ach nein, Herr Lieutenant!“ Frau Weyland sah ganz treuherzig zu ihm in die Höhe. „Sie meinen Ihren Vetter, den Pfarrer von Sankt Lukas, nicht wahr? Nun, wir trafen ihn, ehe wir hierhergingen, er konnte uns nicht begleiten, hatte eine Zusammenkunft mit einem Herrn vom Kirchenkollegium –“

„Daß den der Teufel hole!“ brach der heißblütige Lieutenant los. „Verzeihung, gnädige Frau! Aber wenn Sie wüßten – ich habe da so mein stilles Plänchen – Reginald ist ja ein so herrlicher Mensch, nur eben ein wenig weltfremd, versteht nicht, drauf zu laufen … ich hatte mir’s hübsch gedacht, ihm etwas die Wege zu ebnen –“

„Ich auch!“ fiel die junge Frau ein. „Selten hat ein Mann mir mehr Sympathie eingeflößt als Ihr Vetter, und ich denke mir, er wäre imstande, ein großes Glück – Annie zu besitzen halte ich für ein großes Glück! – vollauf zu würdigen. Aber, Herr Lieutenant, auch wenn wir beide in dieser Sache Bundesgenossen würden, es ist schon zu spät!“

„Auch wenn ich einen dritten und sehr wichtigen Genossen dazu werben könnte – Fräulein Thekla Gerold? Stellen Sie sich vor, daß diese geistreiche Dame mich, Fritz Conventius, mit ihrem besondern Wohlwollen beehrt –“

„Ich hörte davon, Sie sind ja nächstens überall der Bevorzugte, bester Herr Lieutenant, auch bei Rainers scheinen Sie eine gute Nummer zu haben. Aber selbst wenn Thekla unsern Plan billigte, sie würde schwerlich die Hand dazu bieten, sie würde hierin ihre jüngere Schwester nicht beeinflussen wollen, selbst wenn sie es könnte. Und Annie wäre in so wichtigen Dingen auch von niemand zu lenken, sie wird, darauf möchte ich schwören, nur ihrem eigenen Herzen folgen – und dies hat bereits gesprochen!“

Fritz von Conventius starrte ganz erschrocken nach der Gegend hin, in welcher Annie mit dem Professor verschwunden war.

„Sie meinen also wirklich?“

„Ja, ich meine wirklich!“ bestätigte sie nachdrücklich.

Das offene Gesicht des Lieutenants nahm einen so bestürzten und traurigen Ausdruck an, daß Hedwig Weyland ihn in ihrem Herzen einen lieben Menschen nannte. Schweigsam und enttäuscht, jeder in tiefen Gedanken, verließen die beiden Bundesgenossen das Ausstellungsgebäude.

Indessen schritt Delmont an Annie Gerolds Seite als „Führer“ dahin. Wie alle Menschen, die von einer Sache viel verstehen und die Schwierigkeit der Erlernung und Ausübung einer Kunst, sofern sie sich überhaupt „erlernen“ läßt, ermessen, urtheilte Delmont sehr milde und einsichtsvoll über seine Berufsgenossen. Die Nichtswisser und die Halbgebildeten, das sind die schlimmsten Tadler;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 682. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_682.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)