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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

zum Verhängniß wurden. Er hauptsächlich hat die Lehre ausgebildet, daß man nicht Frankreich bekämpfe, wenn man die Regierungen bekämpfe, welche unrechtmäßigerweise dort beständen.

Dem Satze, daß die Emigration ein Fehler gewesen sei, darf man gewiß den anderen entgegenstellen, daß es gerathener war, auszuwandern, als sich guillotinieren zu lassen. Aber wer auswanderte, betrat einen mißlichen Weg, wenn er die fremden Mächte zu einem Kriege gegen Frankreich aufstachelte und gegen die vaterländischen Heere stritt. Selbst ein Bürgerkrieg, von dem für seine und des Königs Vorrechte eintretenden Adel allein ausgefochten, konnte der Sache, für welche dieser Adel eintrat, nicht so unheilbaren Schaden bringen wie die Verbindung mit dem Auslande. Freilich ist es leichter, aus der Kenntniß der Ereignisse nachträglich in kühler Erwägung eine solche Lehre zu ziehen, als es für den Grafen Artois und seine Gesinnungsgenossen war, dieser Lehre nicht entgegenzuhandeln; die überkommene Stellung und Lebensanschauung trieb sie einmal auf diesen Weg.

Der Graf von Artois betrachtete sich, da sein älterer Bruder, der Graf von Provence, erst im Juni 1791 Frankreich verließ, zunächst als den geborenen Leiter der französischen Politik im Auslande, und sein Beirath war der starrsinnige und verblendete Calonne, der frühere Finanzminister. Von Turin aus, auf Reisen durch Italien und Deutschland, durch Zusammenkünfte mit den Monarchen von Oesterreich und Preußen, und seit dem Juli 1791 von Koblenz aus suchte er einen Feldzug verbündeter Herrscher gegen das neue Frankreich zustande zu bringen, damit dort, mit Ludwig XVI. oder auch ohne ihn und selbst gegen ihn, das alte Königthum und die alten Adelsvorrechte wiederhergestellt würden. Daß Frankreich an Oesterreich und Preußen den Krieg erklärte – es geschah im April 1792 – war nicht zum geringsten Theile die Schuld des Grafen Artois. Enttäuschungen und Demüthigungen, die ihm die fremden Höfe bereiteten, die Geldverlegenheiten, die ihn fast beständig drückten, die Mahnungen Ludwigs XVI. und die Bitten der Königin, sich ruhig zu verhalten und die ihnen drohenden Gefahren nicht zu vermehren, machten ihn nicht besonnener und vorsichtiger. Kein Emigrant hat so verderblich auf das Schicksal des Königspaares und auf den Gang der Dinge in Frankreich eingewirkt wie der Graf von Artois, und als er im Jahre 1814 aus England nach Frankreich zurückkehrte, war er unter den Bourbonen derjenige, auf den am meisten der Vorwurf paßte, daß sie „nichts gelernt und nichts vergessen“ hätten.


Träumerei.
Nach einem Gemälde von George v. Hoeßlin.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.


Weniger unbesonnen als der Graf von Artois war dessen älterer Bruder, der Graf von Provence, der ebenfalls nach Koblenz kam und nun, im Wetteifer mit Artois und auf das Vorrecht des Aelteren gestützt, in die Parteileitung mit eingriff. Obwohl er in jenen Jahren alle Einbildungen der Emigranten theilte, lernte er in entbehrungs- und erfahrungsreicher Verbannung die Menschen und Dinge richtiger schätzen, so daß er, im Jahre 1814 auf den französischen Thron als Ludwig XVIII. berufen, wenigstens den übertriebensten Ausschreitungen seiner ehemaligen Genossen entgegenzutreten wußte und überhaupt mehr Herrschergaben entfaltete als seine Brüder.

Der dritte Leiter der Emigration, und zwar der militärischen, ist der Prinz von Condé, der unter den hervorragenden Emigranten am meisten Kriegserfahrung hatte. Er war mit seinem Sohne, dem Herzog von Bourbon, und mit seinem Enkel, dem Herzog von Enghien, auch erst in Turin und hielt sich dann meist in Worms auf.

Die Versuche dieser Prinzen, von Turin aus eine Erhebung königlich gesinnter Bauern und der dem Könige treu gebliebenen Regimenter zu bewirken, hatten geringen Erfolg. Dagegen blieben ihre Aufforderungen, daß waffenfähige Adlige zu ihnen stoßen und Soldaten zu ihnen desertieren möchten, nicht wirkungslos, und auf eine erste Emigration derer, die sich im Auslande in Sicherheit zu bringen suchten, folgte eine zweite, die man die „ehrenhalber“ oder zur Vertheidigung von Thron und Altar unternommene nannte. Außer dem Hofadel und adligen und bürgerlichen Soldaten gehörten zu ihr auch viele Geistliche, welche die sie zu Staatsdienern erklärende Verfassung nicht beschwören wollten, und Mönche und Nonnen, die man aus ihren Klöstern vertrieben hatte; der Umlauf der Assignaten, jenes Papiergeldes, das Zwangskurs haben sollte und dessen Werth beständig sank, und die willkürliche Festsetzung der Getreidepreise veranlaßten zahlreiche Geschäftsleute, Länder aufzusuchen, wo Handel und Wandel besser geschützt und gesichert waren. Die zunehmende Auflösung der öffentlichen Ordnung, die Machtlosigkeit der ordentlichen Gerichte, die Möglichkeit, gemeine Rachsucht und Habsucht dadurch zu befriedigen, daß man auf aristokratische oder freiheitsfeindliche Gesinnung denunzierte, um dann den Denunzierten verhaftet zu sehen und von der Einziehung und dem Verkauf der Güter desselben selber Nutzen zu haben, vergrößerte von Woche zu Woche die Zahl der Auswanderer.

Hatten die ersten Emigranten gemeint, daß der Aufenthalt in der Fremde eine Art Vergnügungsreise von einigen Monaten sein werde, so nahm man nun die Sache ernster und richtete sich aus eine längere Abwesenheit ein. Belief sich die Zahl der Emigranten, die im Sommer 1789 auswanderten, auf Hunderte, so zählte man im folgenden Jahre schon Tausende; man rechnet, daß im Herbst 1790 täglich durchschnittlich 75 Reisewagen mit Emigranten Paris verließen. Im November 1791 wurde die Zahl der Emigranten amtlich auf mehr als 200 000 geschätzt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 685. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_685.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2023)