Seite:Die Gartenlaube (1890) 693.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


verschwinden aus diesem Nest, und um von Zigeunern gestohlen werden zu können, ist sie schon zu groß!“

„Verzeihen gnädige Frau – Fräulein Martha Steinkopf – sie hieß ja aber gar nicht so – ist mit – etwa ein Jahr mag es sein – ist davongelaufen, einfach davongelaufen.“

Ich winke ihm Schweigen. „Ich danke Ihnen, Herr Wirth, ich erfahre das Nähere in der Pfarre selbst. Danke!“

„Und die Frau Oberpfarrerin – gnädige Frau gestatten doch, daß ich das noch bemerke – sollen, wie sich die Leute erzählen, tiefsinnig geworden sein darüber. Sie sollen kaum ein Wort mehr sprechen und –“

„Ich danke Ihnen,“ unterbreche ich ihn heftig, „schicken Sie mir Kaffee!“

Er sieht mich verdutzt an und geht.

Aus dem kleinen Stübchen ist plötzlich aller Sonnenschein gewichen und die Luft schwer und dumpf geworden, oder ist’s mir nur so? Ich sitze im Lehnstuhl und schaue die entsetzlich grüne Tapete an, klar denken kann ich noch nicht. Die Bildnisse des Landesfürsten und seiner Gemahlin an der Sofawand tanzen vor meinen Augen, und der alte Kaiser Wilhelm schüttelt den Kopf – Herr Gott, ich kann’s ja noch immer nicht fassen – meine Elisabeth tiefsinnig! Das sanfte stille Geschöpf, die gute treue Gefährtin der Mädchenzeit! Und das Kind geflohen! – –

Eine Ueberraschung.
Nach einem Gemälde von J. Schmitzberger.


Seit vier Jahren hatte ich Elisabeth nicht wiedergesehen. Damals war sie an unserer Küste in einem kleinen holsteinischen Seebade gewesen mit Mann und Kind, und welch ein reizender Backfisch war aus diesem Kinde geworden! Ich hatte glückliche Stunden mit ihnen verlebt; später waren noch manchmal Briefe zwischen uns hin und her geflogen; aber dann wurde ich nachlässig, große Reisen hatten mich verhindert, meine alten, liebgewordenen Korrespondenzen wieder aufzunehmen, ich hatte auch wohl einmal auf einen Brief keine Antwort erhalten, und die äußeren Zeichen der alten Freundschaft unterblieben schließlich. Aber als ich nun wieder häuslich geworden war auf Räcknitz, gaukelte mir eines Tages so verführerisch der Gedanke vor, Elisabeth zu überraschen, um einmal wieder wie früher so oft das Pfingstfest in ihrem Hause zu verleben, daß ich ihn auszuführen beschloß – und nun?

Eine Thräne nach der andern drängte sich mir aus den Augen, und das eine wußte ich genau, ich konnte sie so nicht wiedersehen; ich wollte nach einer Rücksprache mit dem Oberpfarrer, den ich morgen, sobald der Gottesdienst vorüber war, hierher zu bitten beschloß, um näheres zu erfahren, wieder abreisen.

Draußen hatte sich indessen der Himmel bezogen, drohendes Rollen verkündete ein Gewitter. Bald regnete es, und mehr als das; bei uns zu Hause sagt man: „Es pallscht in Ström.“ – Das Mädchen bringt endlich den gewünschten Kaffee, legt auch das Wochenblatt daneben. Es giebt so Augenblicke, wo man vor heftiger Erschütterung gar nichts fühlt, wo man thun und handeln kann, als wäre einem nichts Furchtbares zugestoßen. Ich trinke ruhig eine Tasse Kaffee, und am Fenster sitzend lese ich in dem Wochenblatt:

„Sonntag, den 5. Juni
Hoftheater in Borndorf
Große Vorstellung zum Benefiz
des Herrn Theaterdirekors von Kranowsky
Faust
eine Tragödie.“

Seltsam! Als ich an jenem Maitag 1867 zum ersten Male hier war, wurde auch „Faust“ gegeben, denke ich und fühle so etwas wie Schwindel bei den Erinnerungen, die mich bestürmen. Unaufhörlich strömt der Regen hernieder; das Dienstmädchen ist wieder hereingekommen und ich starre in das Wetter hinaus.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 693. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_693.jpg&oldid=- (Version vom 31.5.2023)