Seite:Die Gartenlaube (1890) 702.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Freiberg in allen Fächern herum. Thimig spielte Liebhaber, komische Rollen, Väter, Helden und Naturburschen bei Schiemang „mit gleicher Ueberzeugung“; er tanzte und sang, wie es gerade – in des großen Schröder Jugend auch von diesem – verlangt wurde, und bewies sich in all diesen Leistungen so anstellig und eifrig, daß er dem Direktor Schiemang vom Breslauer Stadttheater wegengagirt wurde. In der schlesischen Hauptstadt lebte damals noch Karl v. Holtei, ein müder, kranker Mann; der jugendliche Komiker erregte aber den Antheil des alten Kenners dermaßen, daß dieser ihn Dingelstedt als „reif für das Burgtheater“ empfahl. Das Fürwort des greisen Meisters wirkte, Dingelstedt entbot den ahnungslosen Thimig zu sich in das Hotel; dort empfing er ihn in einer seiner beliebten Ministerposen.

„Sind Sie nicht älter?“ fragte er endlich, nachdem er eine Weile prüfende Blicke aus „müden Augendeckeln“ auf den zagenden Besucher gerichtet hatte; jeder weiteren, stammelnd gewagten Entgegnung bereitete er sodann ein jähes Ende mit der zweiten „Verblüffungsfrage“: „Sind Sie Frack- oder Mantelschauspieler?

„Herr Hofrath,“ erwiderte der schlagfertige Künstler, „in den Kleidern, die mir von der Direktion geliefert werden, spiele ich am liebsten.“

Dingelstedt lachte und lud Thimig 1874 zu einem Probegastspiel an das Burgtheater, wo er sich aufs glücklichste einführte. Im Lauf der Jahre bewährte er sich als „Frack- und als Mantelschauspieler“ so glänzend, daß er 1881 das Decret als wirklicher Hofschauspieler und vor Jahresfrist, dank Förster und Alfred Berger, einen lebenslänglichen Vertrag erhielt, dessen Bedingungen wohl bewiesen, daß kein Zweiter unter dem künstlerischen Nachwuchs von der Theaterleitung wie vom Publikum höher geschätzt wird als Hugo Thimig.

Verdient hat unser Künstler all diese Anerkennung so redlich und reichlich, daß ihm niemand seine Ehren und Erfolge mißgönnt. Mit edler Bescheidenheit hat er nach seinem Eintritt in das Burgtheater begonnen, von vorne an zu lernen und „umzulernen“. Im künstlerischen und freundschaftlichen Verkehr mit den Besten des Burgtheaters hat er sich in die Ueberlieferungen dieser Musterbühne eingelebt und über dem Studium der trefflichen Vorbilder von Hartmann, Schoene, Meixner etc. niemals vergessen, er selbst allein zu sein. An die größte wie an die kleinste seiner Aufgaben tritt er mit gleicher Liebe und Laune heran. Begabung und Fleiß halten gute Kameradschaft bei ihm und ihr fester Bund befähigt ihn, sich im klassischen und im modernen Lustspiel gleicherweise hervorzuthun. Im deutschen Schwank sind seine schüchternen Liebhaber, seine dummdreisten Offiziersburschen, seine derben und dämlichen Spießbürger allen guten Geistern der „Fliegenden Blätter“ ebenbürtig, in der Kunst der Maske zumal wetteifert er mit den besten Eingebungen von Oberländer und Busch. Für das moderne Pariser Konversationsstück bringt unser geschmeidiger Sachse die übermüthigste Champagnerlaune mit. Und noch viel andere Humore sind ihm geläufig; als Shakespearespieler braucht Thimig hinter keinen anderen zurückzutreten, sein Junker Christoph Bleichenwang in „Was Ihr wollt“ mit seinen trübseligen Räuschen und renommistischen Rundgesängen, mit seinem kranken Lachen und seiner gesunden Feigheit ist schlankweg klassisch; sein Friedensrichter Schaal in „Heinrich IV.“ behauptet sich neben der Meisterschöpfung von Karl La Roche; sein Gracioso in Calderons „Arzt seiner Ehre“, wie in Lopes „König und Bauer“ ist so untadelig wie sein Schmock in den „Journalisten“. Die Bockssprünge des Satyrs im „Kyklops“ des Enripides fallen ihm nicht schwerer als die mundartlichen Scherzreden seines sächsischen Landsmannes Schmählich in „Rosenkranz und Güldenstern“.

Man sollte denken, daß dieser weitumschriebene Kreis bedeutender Aufgaben den Ehrgeiz eines Künstlers befriedigen sollte. Allein so gern sich Thimig als Episodist mit seinen bis ins Kleinste und Feinste ausgeführten Miniaturen dem Gesamtbilde, dem berühmten Ensemblespiel des Burgtheaters unterordnet, bisweilen lockt es ihn doch, zu versuchen, wie weit er imstande sei, ein ganzes Stück allein auf seinen Schultern zu tragen. Das erste Mal erfuhr er zu seiner Freude, daß seine Kraft auch solchen Aufgaben gewachsen sei, als ihm Wilbrandt die Hauptrolle in Gogols „Revisor“ zutheilte. Besser als jeder Lobspruch zeugt für diese Leistung die Thatsache, daß ein namhafter russischer Kritiker, Boborykin, der auf der Durchreise zufällig das Burgtheater besuchte, Thimigs Chestakoff für die beste Vergegenwärtigung dieses Typus erklärte, die man überhaupt noch gesehen, den Darsteller selbst aber schlechterdings für einen Russen hielt.

Seinen stärksten Trumpf spielte Thimig aber mit seinem Truffaldino aus, dem venezianischen Harlekin in Goldonis „Diener zweier Herren.“ Der Held dieser italienischen Volkskomödie ist ein Schelm aus Bergamo, der sich aus Hunger und Habsucht gleichzeitig zwei Herren verdingt, für die er vollauf zu thun hat. Dabei richtet er in seiner Einfalt, Gefräßigkeit und Verliebtheit soviel Verwirrung an, daß er von beiden geprügelt wird, bei beiden nicht satt zu essen bekommt und zuguterletzt keinen anderen Profit davonträgt – „wenn’s einer ist!“ – als ein Kammerkätzchen, das seine Frau wird. Dieser blutarme Teufel mit all seinen Schnurren und Streichen blickt nebenher auf einen jahrtausendealten Stammbaum zurück, denn in Wahrheit ist dieser venezianische Hanswurst der unmittelbare Abkömmling der verschmitzten Sklaven der altrömischen Komödie, ein Bursche, dem man trotz all seiner Frechheit und Verlogenheit nicht dauernd gram sein kann, da er uns immer wieder durch seine naive Unverschämtheit belustigt, durch seine närrischen Ausreden und tollen Stücklein entwaffnet. Seit Schröders Zeiten hat die deutsche Bühne immer wieder versucht, gerade diese Goldonische Posse, gleichsam als Musterstück des alten Stegreifspiels, in den festen Bestand ihres Repertoires aufzunehmen, denn Truffaldino wirkt weit mehr als durch die vorschriftsmäßigen Worte des Bühnentextes durch seine pantomimischen Zwischenspiele, durch seine Balletsprünge und Turnerkünste. Thimig hat sich mit wahrhaft genialer Schöpferkraft dieser Aufgabe bemächtigt; er wollte mit dem großen Arlechino Sacchi wetteifern, zugleich aber das strenge künstlerische Maß festhalten, welches die vornehmste deutsche Bühne auch der ausgelassensten Faschingsposse vorschreibt. Und dank der einzigen Mischung seines übersprudelnden Temperaments und seiner strammen künstlerischen Zucht gelang es ihm wirklich, Hanswursts Unsterbliches in den Burgtheaterhimmel hinüberzuretten. Er wagte es, dem übermüthigen Bengel eine körperliche Gelenkigkeit und Springfreudigkeit zu geben, die ihn wenig vom Seil- und Grotesktänzer unterscheidet. Im Kostüm behielt er pietätvoll das Abzeichen des Bergamasker Bauern, das Hasenschwänzchen am Hut, bei, während er das buntscheckige Harlekinsgewand weiter zurück vermenschlichte in das, was es vielleicht immer andeuten sollte: das geflickte Jäcklein eines armen, lustigen Hans Dampf. Vor allem schenkte Thimig Truffaldino aber sein ganzes Herz: „ich kroch in seine Haut,“ so scherzte er einmal, „als wenn sie meine eigene werden sollte, und nahm die verwegensten Uebertölpelungen so ernst und wahr, als ob mein Lebensglück davon abhinge, suchte naiv und überzeugt zu sein und mied ängstlich alle parodistischen Streiflichter, die den Darsteller klüger sein lassen, als seine Rolle.“ Jahrhundertalte halbverschollene Ueberlieferungen der volksthümlichen, wälschen und deutschen Komödie hat Thimig solcherart wiederbelebt und als moderner wohlgeschulter Schauspieler verjüngt, die venezianische typische Maske in eine lebenswahre und -warme, individuell bestimmte Persönlichkeit umgewandelt. Kein Zweifel, daß diese Leistung Thimigs einen Gipfel der neueren deutschen Schauspielkunst bezeichnet. Kein Lebender hat Thimig in der Heimath oder in Italien den „Diener zweier Herren“ vorgespielt, und wir glauben nicht, daß ihm irgendwer seinen Truffaldino, von dem Bild und Wort kaum eine Vorstellung geben können, nachspielen wird.

Anton Bettelheim.




Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Die Ostjaken.

Von Alfred Edmund Brehm.

(Fortsetzung.)

Dem Wollen des Menschen fügt sich hier wie überall der Hund, aber der Mensch muß sich den Bedürfnissen des Renthieres fügen. Diese Bedürfnisse, nicht der Wille oder die Laune des Hirten, bestimmen das Wanderleben des umherschweifenden Ostjaken. Mit Beginn der Schneeschmelze zieht er langsam dem Gebirge zu; mit Beginn der Mückenplage steigt er an den Wänden der Berge aufwärts oder mindestens zu den Rücken der Hügelzüge empor; mit dem Aufhören der Qual, welche freilich auch die freien Höhen nicht gänzlich verschont, kehrt er allmählich wieder in die Tieftundra zurück, um hier, womöglich in der Nähe seines heimathlichen Stromes, den Winter zu verbringen. Dies ist der Kreislauf, welchen er in jedem Jahre zurücklegt, falls nicht das Unglück über ihn hereinbricht, die entsetzliche Seuche ihn heimsucht.

Noch bevor der kurze Sommer einzieht in seine unwirthliche Heimath, noch bevor das erste Wehen des Frühlings sich regt, in einer Zeit, in welcher die starke Eisdecke noch unerschüttert liegt auf dem gewaltigen Strome, seinen Zuflüssen und allen den unzähligen Seen der Tundra, bringen die Renthiere ihre Kälber; es gilt deshalb mehr als je, einen Platz aufzusuchen, welcher auch jetzt den Altthieren wie den Kälbern gedeihliche Weide bietet. Zu diesem Zwecke wandert unser Hirt nicht den tiefsten Thälern, sondern im Gegentheile den Höhen zu, von deren Kämmen der tobende Wintersturm so viel als möglich den Schnee weggeweht hat, und schlägt hier seinen Tschum an der geeignetsten Stelle auf. Tage-, wochenlang verweilt er hier, bis die freigelegte Renthierflechte ringsum überall aufgezehrt worden ist und auch der breite Huf des Thiers, welcher den Schnee wegräumt, um zu der von diesem bedeckten Weide zu gelangen, nichts mehr zu Tage fördert. Dann erst bricht er von neuem auf und wendet sich einer unfernen Stelle zu, welche ähnliche Vorzüge besitzt wie die erste. Auch sie verläßt er nicht früher, als bis er wiederum Weidemangel verspürt; dennoch erfreut er sich einer Zeit, welche er die gute nennen darf. Die Herden weiden jetzt in dichtgeschlossenen Trupps; unter den Hirschen, deren Geweihe eben erst zu sprossen begonnen haben, herrscht tiefster Friede; die Kälber werden von den sorgsamen Altthieren nicht aus den Augen gelassen; die Herde zerstreut sich weder, noch entfernt sie sich weiter aus der Nähe des Tschums, als der laute Hirtenruf tönt, welcher sie gegen Sonnenuntergang zurückruft. Nachts zwar umschleicht sie der gierige Wolf, welchen der Winter vom Gebirge herabtrieb in die Tieftundra, aber die muthigen Hunde halten scharfe Wacht und wehren dem Räuber; unser Hirt sorgt sich daher ebenso wenig um den Wolf wie um den Winter, welchen er wie alle hochnordischen Völker als die beste Jahreszeit betrachtet.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 702. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_702.jpg&oldid=- (Version vom 11.2.2023)