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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Die noch sehr kurzen Tage werden rasch langer und die Nächte immer kürzer; die Gefahren für seine wehrlosen Herdenthiere also geringer. Der Strom wirft seine winterliche Decke ab, mit den in den Steppen des Südens erwärmten Fluthen strömen laue Winde durch das Land; ein Hügelrücken nach dem andern wird schneefrei, und hier wie im Thale, wo die jungen Knospen üppig schwellen, finden die wetterharten Thiere reiche Weide; die Tieftundra ist zu einem Paradiese geworden in den Augen unseres Hirten. Doch nur kurze Zeit währt sein und seiner Herdenthiere behagliches Leben, die rasch sich hebende und immer länger, immer wärmer strahlende Sonne schmilzt auch in den flacheren Thälern den Schnee, auf den breiten Seen das Eis, thaut selbst die Oberfläche der gefrorenen Erde auf und ruft neben den ersten harmlosen Kindern des Frühlings – Milliarden quälender Mücken, zudringlicher Bremsen zum Leben wach. Nunmehr beginnt die Wanderung wirklich; jetzt zieht der Hirt, in kurzen Tagesmärschen zwar, aber doch eilig dem Gebirge zu.

Sobald der Nachtthau trocken geworden ist auf Moosen, Flechten, Gräsern und jungen Blättern der Zwerggesträuche, brechen die Frauen den Tschum ab, welchen sie gestern erst errichtet haben, und bepacken die Schlitten. Währenddem jagt der Hirt auf seinem leichten, mit vier kräftigen Hirschen bespannten Schlitten der zerstreut äsenden oder weidesatt in Gruppen gelagerten Herde zu, treibt die Thiere zusammen und nach der Lagerstelle, auf welcher seine Familiengenossen bereits zum Empfange gerüstet sind. Ein dünnes Seil, welches die Renthiere nur selten zu überspringen wagen, in den Händen haltend, bilden sie einen Kreis um die Herde; der Hirt begiebt sich, die Fangschlinge in der Rechten, mitten unter die Thiere, wirft den erwählten Hirschen fast unfehlbar die Schlinge um Hals oder Geweihe, fesselt sie, schirrt und spannt sie ein, befiehlt, daß alle übrigen entlassen werden, besteigt wiederum seinen Schlitten und fährt in der Wegrichtung davon. Alle übrigen Schlitten, gelenkt von den Mitgliedern der Familie, folgen ihm in langer Reihe nach; auch die gesamte freie Herde setzt sich blökend und grunzend und bei jedem Schritte eigenthümlich knackend in Bewegung; die Hunde endlich umspringen, beständig bellend und die zum Umherschweifen geneigten Thiere zusammenhaltend, den ganzen Zug, können es aber doch nicht hindern, daß einzelne Renthiere seitwärts abschweifen und zurückbleiben. Mehr und mehr breitet sich die Herde aus; malerisch schmückt sie alle Höhen umher; von besonders beliebter Aesung festgehalten, verweilt sie truppweise hier und da, bis der Hirt mit seinem Adlerblick den ganzen Unfug wahrnimmt, seitlich ausbiegt, in weitem Bogen die Säumigen umfährt und durch das Machtwort seiner Stimme oder durch die Hunde den vorausgezogenen Genossen nachtreibt. Neues, allgemeines Grunzen, lauteres Bellen der Hunde – und dahin wogt die wieder geschlossene Schar, ein wahrer Wald von Geweihen.

Die Sonne neigt sich; die Zugthiere ächzen und stöhnen mit lang aus dem Halse hängender Zunge: es wird Zeit, ihnen Ruhe zu gönnen. In geringer Entfernung, neben einem der zahllosen Seen, hebt sich ein flach gewölbter Hügel; ihm wendet der Hirt sich zu; auf der Höhe desselben bringt er sein geweihtragendes Gespann zum Stehen. Ein und der andere Schlitten langt dort an; die freie Herde erscheint ebenfalls, begiebt sich jedoch sofort auf die Weide, und die entschirrten Zugthiere folgen nach. Die Frauen wählen eine geeignete Stelle zur Errichtung des Tschums, stellen die Stangen im Kreise auf und umkleiden sie mit dem Rindenmantel; der Hirt aber geht mit seiner zum Gebrauche fertigen Wurfleine unter die Herde, wählt sich kundigen Auges einen jungen feisten Hirsch und wirft ihm die Schlinge über. Vergeblich versucht der Renhirsch sich zu befreien, er muß dem Fänger bis in die Nähe des inzwischen, aufgestellten Tschums folgen. Ein Beilhieb auf den Hinterkopf wirft das Opfer zu Boden, ein Messerstich ins Herz endet sein Leben. Zwei Minuten später ist das Thier bereits gehäutet, aufgebrochen und kunstfertig ausgeweidet; eine Minute darauf tauchen alle rasch versammelten Familienglieder die in Streifen zerschnittene Leber in das in der Brusthöhle zusammengeflossene Blut und das „blutige Mahl“ beginnt. Im Kreise um den noch lebenswarmen Hirsch hockend, schneiden sich die Schmausenden Rippen oder Stücke von den Rücken- und Schenkelmuskeln ab; die Lippen röthen sich, ein und der andere Blutstropfen fließt an ihnen herab, über Kinn und Brust; die Hände färben sich ebenfalls, beschmieren, triefend von Blut, auch Nase und Wangen, und blutige Gesichter starren dem verwunderten Fremdling entgegen. Die Hunde aber sitzen lauernd hinter den Essenden und schnappen die abgenagten Knochen auf, welche man ihnen zuschleudert. Gesättigt erhebt sich ein Mahlgenosse nach dem andern, wischt sich die blutige Hand am Moose ab, reinigt das Messer in gleicher Weise und begiebt sich sodann in den Tschum, um hier behaglich zu ruhen. Die Hausfrau aber füllt den Kochkessel mit Wasser, legt sodann so viel Fleisch von dem halb aufgegessenen Thiere in den Kessel, als dieser fassen kann, und zündet Feuer an, um den Nachtimbiß zu bereiten.

Währenddem hat der Hirt sein Obergewand abgeworfen und sich selbst so dem Feuer genähert, daß die Flamme mit voller Wirkung gegen den entblößten Oberleib strahlen kann. Er fühlt sich höchst behaglich und denkt an neuen Genuß. Ein wunderlicher Kauz, welcher in seiner Gesellschaft dem Gebirge zuzieht, ein Deutscher seines Herkommens, hat ihm nicht allein Tabak, ein wahrhaft entsetzliches Kraut allerdings, aber ein sehr kräftiges Kraut, sondern auch einen großen Bogen Zeitungspapier geschenkt. Von diesem reißt er bedächtig ein viereckiges Stück ab, dreht es zu einer kleinen spitzigen Düte zusammen, füllt diese mit dem Tabak, knickt sie in der Mitte, und das Pfeifchen ist fertig, brennt auch einen Augenblick später trefflich und riecht so vorzüglich, daß seine Gattin die Nüstern weitet und nach demselben Genusse verlangt, auch ihren Wunsch sofort erfüllt sieht. Reihum wandert das Pfeifchen, und jedes Familienglied erfreut sich der Labung.

Doch im Topfe beginnt es zu brodeln; die Abendkost ist fertig geworden und alle „erheben die Hände zum lecker bereiteten Mahle“. Dann tritt der Hirt vor die Thür des Tschums, stößt mit langgezogenen Lauten einen weitschallenden Ruf aus, versammelt durch ihn für heute zum letztenmal die unruhige Herde und kehrt befriedigt in den Tschum zurück. Hier hat unterdessen die Frau das Mückenzelt aufgeschlagen, und wenige Minuten später verkündet lautes Schnarchen, daß die ganze Familie den Schlaf der Gerechten gefunden hat.

Am nächsten Morgen beginnt derselbe Tageslauf, und so geht es weiter, bis die Höhen des Gebirges längeres Rasten und Verweilen auf einer und derselben Stelle gestatten. Der oben sehr zeitig fallende Schnee mahnt bereits im August zur Rückkehr, wiederum beginnt die Wanderung und führt, jetzt nur langsamer und gemächlicher, Hirt und Herden nach der Tiefe zurück.

Mit dem Schwinden des Eises beginnt auch die Thätigkeit der ostjakischen Fischer am Strom. Viele dieser Fischer arbeiten im Solde oder doch in Gemeinschaft der Russen, andere verhandeln nur einen Theil des Ueberschusses ihres Fanges an diese und fischen auf eigene Rechnung. Unmittelbar nach dem Eisgange stellen die einen ihren Tschum neben den Fischerhütten der Russen auf oder beziehen die andern ihre hart am Strome gelegenen Sommeransiedelungen, Blockhäuser einfachster Bauart. Da, wo ein Fluß in den Strom mündet, sperrt man ihn durch einen Zaun, welcher nur einen Durchgang enthält; bei tieferem Wasserstande stellt man Reusen und legt Grundangeln; außerdem fischt man nur mit dem Zugnetze und Schleppnetze.

Rege Thätigkeit herrscht auf allen Fischplätzen, wenn es guten Fang giebt. Ueber der Oeffnung des Zaunes hocken auf schwankendem Gerüst halberwachsene Jungen, eher Knaben als Männer, und sehen scharf in die trüben Fluthen unter sich, um zu erfahren, ob Fische einlaufen in das von ihnen gehaltene, den Durchgang schließende Netz, heben dasselbe von Zeit zu Zeit mit der gefangenen Beute auf und entleeren seinen Inhalt in ihre kleinen Boote. Die Männer fischen auf einer Sandbank gemeinschaftlich mit dem Zugnetze oder auf seichteren Stellen des Stromes mit dem Schleppnetze. Nachmittags oder gegen abend kehren die Fischer heim und theilen jeder Haushaltung ihr Maß von der Beute zu. Am nächsten Morgen beginnt die Wirksamkeit der Frauen. Einzeln oder in Gruppen hocken sie um große Fischhaufen, jede mit einem Brett und einem scharfen Messer ausgerüstet, um die Fische zu entschuppen, auszunehmen, zu theilen und auf lange, dünne Stöcke zu spießen, welche dann an den Trockengerüsten zum Dörren aufgehängt werden. Geschickt und sicher geführte Schnitte öffnen die Bauchhöhle des Fisches und trennen seine seitlichen Muskeln von der Wirbelsäule, einige Handgriffe mehr die Leber und die übrigen Eingeweide von Kopf und Gerippe und den werthvolleren Seitentheilen des Leibes. Eine Leber nach der anderen gleitet über die schlürfenden Lippen; denn die Frauen sind noch nüchtern und nehmen als Vorspeise den Leckerbissen zu sich. Regt sich der Magen doch noch, so wird

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 703. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_703.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)