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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Halbheft 23.   1890.
      Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1890. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Sonnenwende.
Roman von Marie Bernhard.

(4. Fortsetzung.)


7.

„Ob ich es ihr sagen soll? Ob ich es ihr nicht sagen muß?“ fragte sich Annie Gerold hochklopfenden Herzens, während sie sich an dem Theetisch zu schaffen machte. Es stand ihr sehr reizend, wie sie, eine zierliche gestickte Schürze vorgebunden, unter dem warmen Licht der großen Hängelampe mit dem silbernen Theekessel hantierte, die Teller mit Butterschnitten und kaltem Fleisch zurechtstellte und das alles mit so ruhiger Anmuth that. „Wie sie ihrer Mutter gleicht!“ dachte Thekla, die mit lässig übereinandergelegten Händen in ihrem weiten Lehnstuhl ruhte. „Die war genau solch entzückendes Hausmütterchen, und wer wollte es meinem Vater verdenken, daß er ganz in Liebe und Bewunderung aufging? – Das thörichte Kind!“ setzten sich Theklas Gedanken fort. „Jetzt hat sie irgend etwas zu berichten, wozu es am Nachmittag vor allen sogenannten Freundschaftsbesuchen nicht gekommen ist, und nun weiß das arme, kleine Geschöpf nicht, wie es das anfangen soll! Das kommt aber davon, daß ich meine Gefühle für das Kind meistens so sorgfältig verberge und immer so kühl und spöttisch mit ihm rede! Und unser Vater hat doch ausdrücklich zu mir wiederholt gesagt: ‚Faß mir das Vögelchen sanft an, – und vor allen Dingen dann, wenn sein Herz erwacht und die Liebe darin einzieht.‘ Aber springe einmal jemand über seinen eigenen Schatten! Ich komme mir so lächerlich vor, wenn ich einmal weich und gefühlvoll bin, ich bin es so an mir gewöhnt, den Verstand reden und das Herz schweigen zu lassen – und doch kann kein Mensch auf der Welt – nein kein einziger! – mein Kind so lieben, wie ich es liebe! Wie soll ich denn jemals weiterleben ohne das Vögelchen? Das wäre ja, als wenn man einem Menschen auf Nimmerwiedersehen die Sonne fortnehmen würde. Aber freilich, freilich – als ob es sich um mich handelte! Mein Kind hat seine erste Liebe gefunden, – – das ist’s! Ob es auch die echte, die wahre sein wird?“

Und Thekla seufzte unwillkürlich tief auf. Sofort war Annie neben ihr.

„Liebe Thea, Dir ist doch nicht schlechter?“

„Im Gegentheil, Liebling! Ich habe heute meinen guten Tag! Heute, siehst Du, könnte ich alles mögliche reden und – – hören!“

„Kluge Thea!“ flüsterte Annie und wandte das Gesicht weg, um dessen Erröthen nicht sehen zu lassen. „Nach dem Abendbrot!“ setzte sie hastig hinzu, da die Thür sich aufthat und Agathe mit einem Servierbrett eintrat.

„Nein, was für ein hübsches Bild!“ rief die alte Frau – Annie hatte sich


Die Meininger: Amanda Lindner als Jungfrau von Orleans.
Von C. W. Allers.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 709. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_709.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2020)