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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

um ein nordisches Drama des Ehrgeizes wie „Macbeth‟. Den Zauber des Südens und die Schauer des Nordens vermag eben die Bühne selbst wirksam zu versinnlichen und so gleichsam den Boden herzugeben für die schönen oder giftigen Blüthen der Leidenschaft.

Alexander Barthel als Marc Anton in „Julius Cäsar“.

Noch wichtiger war als Vorbild für andere Bühnen die Pflege, welche die Meininger dem Zusammenspiel, dem Ensemble, zutheil werden ließen. Man hat zwar darin nur den Triumph der Mittelmäßigkeit sehen wollen und bei einseitiger Bevorzugung, auf Unkosten der selbstschöpferischen Begabung der Künstler, nicht mit Unrecht. Doch haben die Meininger sich nie mit mittleren Kräften, auch nicht mit erst heranzubildenden schönen Talenten begnügt: namhafte Künstler wie Ludwig Barnay, Emmerich Robert, Friedrich Dettmer, Pauline Ulrich, Anna Haverland, Max Grube wirkten längere oder kürzere Zeit bei den Aufführungen der Meininger mit. Gerade das sorgfältig einstudierte Spiel der einzelnen, bei denen jedes Wort, jede Bewegung wohlerwogen war und im Einklang stand mit dem Ganzen, vor allem aber die Gesammtgemälde in den Volksscenen, in denen nichts todt und maschinenmäßig war, nichts einförmig und eintönig und an das Spiel der Opernchöre erinnernd, wurden ein leuchtendes Vorbild für alle Bühnen, welche anfingen, den üblichen Schlendrian zu verbannen, große Gruppenbilder, Volks- und Massenscenen mehr als bisher künstlerisch zu beseelen, ähnlich wie der Geschichtsmaler seinen Figuren verschiedenartige Stellungen, mannigfachen Gesichtsausdruck und ein abgestuftes Gebärdenspiel giebt. Nach dieser Seite hin haben die Meininger geradezu Unvergleichliches geleistet, und niemand wird den Eindruck vergessen, den die Forumscene des „Julius Cäsar“ im dritten Akt, den der dritte Akt der „Bluthochzeit“ oder der Einbruch der Pappenheimer in „Wallensteins Tod“ hervorruft. Diese Wirkung war immer eine elektrisirende und niemals sind vorher auf der Bühne durch die Massen selbst Wirkungen dieser Art erreicht worden.

Paul Richard als Julius Cäsar.

Freilich blieb für die andern Theater auch nachher das Vorbild der Meininger ein fast unerreichbares, aus äußern Gründen; denn welches auf den Tagesbedarf und Tagesgenuß angewiesene Theater hatte Muße genug zu solchen wochenlangen Einstudierungen, wie sie in der friedlichen Stille der kleinen Residenz stattfanden? Und hierzu kam die außerordentlich hohe Zahl der Aufführungen, bei denen wenigstens zum großen Theil lange Zeit hindurch dieselben Kräfte mitwirkten. Wurde doch „Julius Cäsar“ 330 mal, „Wilhelm Tell“ 223 mal, „die Jungfrau von Orleans“ 194 mal gegeben; auch die andern Schillerschen Dramen erreichten weit über hundert Aufführungen. Damit ist zugleich ein anderes Verdienst der Meininger hervorgehoben: die erfolgreiche und glänzende Pflege der ernsten, höheren dramatischen Dichtung in einer Zeit, welche sich mehr der leichteren Unterhaltung und den alltäglichen Lebensbildern auf der Bühne zugewendet hat.

Zu den leitenden Kräften des großen, in seiner Art einzigen Kunstunternehmens gehörte in erster Linie der Herzog von Meiningen selbst; er war kein müßiger Schutzherr, von ihm gingen die hauptsächlichsten Anregungen aus: die Wahl der Stücke, die Entwürfe der Kostüme; er begleitete das Wort, die Stellung, die Gebärde der Darsteller auf jeder Probe mit seiner Kritik, während seine Gattin, früher eine namhafte Künstlerin, die Rollen den jüngeren Darstellerinnen häufig einstudierte. In Ludwig Chronegk, dessen Bild wir bringen, hatte der Herzog eine vorzügliche Kraft gewonnen, der er von Anfang an die Leitung der Gastspiele anvertrauen konnte. Ludwig Chronegk, geboren 1837 zu Brandenburg, hatte am Krollschen Theater in Berlin seine Künstlerlaufbahn begonnen; im Jahre 1873 wurde er Regisseur des Meininger Theaters und leitete schon im folgenden Jahre und dann ohne Unterbrechung die Gastspiele der Meininger bis zur Gegenwart; im Jahre 1876 wurde er zum Oberregisseur ernannt, 1879 zum stellvertretenden Intendanten, 1880 zum Intendanzrath und später zum Hofrath und Geheimen Hofrath. Chronegk ging ganz auf die Absichten des Herzogs ein; als ein Mann von seltener Thatkraft verstand er es stets, die Schwierigkeiten zu überwinden, die sich hier und dort den Gastspielen entgegenstellten, allerwärts auf den Proben den Geist des Ensembles wachzuhalten, die an allen Orten neu hinzukommende Statisterie einzuüben und störungslos in das dramatische Gesammtbild einzufügen. Dazu fehlte bei den Gastreisen die Meininger Muße; unterstützt wurde aber Chronegk bei dieser mühsam sich stets wiederholenden Regiearbeit durch den am Hoftheater üblichen Brauch, daß in den Volks- und Massenscenen auch die ersten Darsteller mitwirken, die Lichter an rechter Stelle aufsetzen und die andern Mitwirkenden anfeuern.

Am 1. Mai 1874 fand das erste Gastspiel der Hoftheatergesellschaft am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater in Berlin statt und erregte sogleich großes Aufsehen bei Publikum und Kritik und einen lebhaften Kampf der Meinungen. Von da bis in den Juli d. J., wo die Schlußvorstellung in Odessa stattfand, sind die Meininger in siebenunddreißig Städten in Deutschland, Belgien, Holland, der Schweiz, England, Rußland, Oesterreich, Dänemark und Schweden aufgetreten; die Zahl der Aufführungen hat die Höhe von 2573 erreicht. Am häufigsten haben die Meininger die Reichshauptstadt besucht; sie sind seit dem Jahre 1875 bis zum Jahre 1887 dort achtmal erschienen und haben immer die regste Theilnahme gefunden; wie in Berlin haben sie auch in Breslau acht Gastvorstellungen gegeben, doch war ihr Aufenthalt dort immer von kürzerer Dauer; Dresden hat sie sechsmal, Leipzig fünfmal, Graz und Pest je viermal, Wien dreimal, Hamburg einmal gesehen.

Unter den darstellenden Kräften finden sich ältere Stammhalter,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 718. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_718.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)