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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

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Das Lottchen.

Von Gustav Karpeles.

Es war etwa um die neunte Stunde eines schönen Sommermorgens im Jahre 1887, als an der Parterrewohnung des stattlichen Patrizierhauses Esplanade 39 in Hamburg heftig geschellt wurde. Es dauerte ziemlich lange, bis eine scharfe Frauenstimme, ohne zu öffnen, von innen heraus die Frage erschallen ließ: „Die Milchfrau?“

„Nein!“

„Wer sonst?“

„Die Kaiserin von Oesterreich.“

Die Fragende war Frau Charlotte von Embden, die Schwester Heinrich Heines, die Antwortende die Kammerfrau der Fürstin auf Oesterreichs Herrscherthron, die das Andenken Heinrich Heines hoch in Ehren hält und an jenem Tage eigens nach Hamburg gefahren war, um von der einzigen noch lebenden Schwester des Dichters Auskünfte über sein Leben und seine Schöpfungen sich zu erbitten. Man kann wohl sagen, daß seit jenem Tage das Lottchen – so nannte Heine seine Schwester mit Vorliebe – wieder populär geworden ist, nachdem die geschäftige Fama sie jahrelang in Ruhe gelassen hatte. Nur von Autographenjägern und neugierigen Verehrern des Dichters wurde die alte Frau in den letzten Jahren mehr als billig heimgesucht, bis durch die Kaiserin von Oesterreich die Erinnerung an sie, die in stiller Muße ihr Alter genoß, in weiterer Oeffentlichkeit wieder wachgerufen wurde.

Am 18. Oktober d. J. feiert die Schwester Heinrich Heines ihren neunzigsten Geburtstag! Ich meine, das ist die würdigste Gelegenheit, um von ihr selbst und von ihren Beziehungen zu dem berühmten Bruder ausführlich zu sprechen.

Charlotte Heine wurde am 18. Oktober 1800 (nicht, wie alle Biographen und auch ich bisher geschrieben, 1803 oder 1805) als die erste Tochter von Samson und Betty Heine in Düsseldorf – zehn Monate nach ihrem Bruder Harry – geboren. Sie war des seltsamen Knaben frohe Spielgenossin; sie theilte seine Arbeiten, seine kindlichen Sorgen und Hoffnungen, und sie blieb auch seine einzige und beste Freundin, die Vertraute seiner Freuden und Leiden bis zu seinem Tode. Lottchen war ein aufgewecktes, ein kluges und munteres Mädchen. Von ihren Jugendspielen mit dem Dichter wissen die Biographen manches hübsche und anmuthige Bild zu entwerfen. Mit Vorliebe suchten die beiden Kinder Reime zu machen. In aller Frühe, wenn die anderen noch in tiefem Schlummer lagen, spielten sie schon miteinander auf dem Hofe. Eines Tages quälte sich Lottchen vergebens; sie konnte die gewünschten Verse nicht finden. Da wandte sie sich an den Bruder: „Dir ist es leicht, Reime zu finden, mir wird es sehr schwer. Wir wollen nun ein anderes Spiel spielen. Ich werde eine Fee vorstellen, wir bauen einen Thurm, und ich bewohne ihn; Du bleibst draußen stehen, singst und findest Reime.“

Und in der That bauten sie nun einen Thurm aus leeren Kisten, die sie beide eine auf die andere stellten. Dann kletterte die Kleine hinauf bis zu der letzten Kiste und sprang hinein. Die Fee war verschwunden; denn die Kiste war höher als das Kind.

Als Heine seine Schwester nicht mehr erblickte, wurde ihm bange und er lief ins Haus, um Hilfe rufend. Charlotte versuchte nun, sich selbst zu befreien, die Kisten fingen an zu schwanken, und furchterfüllt kauerte sie laut weinend in einer Ecke nieder. Als man ihr zu Hilfe eilte, blieb sie still und stumm in der Ecke sitzen. Sie fürchtete Strafe, weil sie ihr bestes Kleid angelegt und beim Hineinspringen zerrissen hatte; doch als sie das laute Weinen ihres Bruders hörte, rief sie ihm zu: „Harry, ich lebe, aber mein Kleid ist zerrissen!“ Nicht ohne Schwierigkeiten wurde sie von dem selbsterbauten Thurm heruntergeholt, und Harry umarmte sie stürmisch, überglücklich, sein Schwesterchen wieder am Leben zu finden. Noch am Abend seines Daseins, wenige Wochen vor seinem Tode, erzählte Heine, daß er nie den freudigen Eindruck vergessen, den er damals als achtjähriger Knabe empfunden habe.

Die Fürstin de la Rocca, die Tochter von Charlotte von Embden, erzählt in ihren „Erinnerungen“ noch manche liebenswürdige Geschichte aus der Kindheit Heines und seiner Schwester.

Ein schönes Denkmal hat Heine zur Erinnerung an jene Kinderzeit seiner Schwester in dem Gedicht „Heimkehr“ gewidmet, welches folgendermaßen lautet:

„Mein Kind, wir waren Kinder,
Zwei Kinder, klein und froh;
Wir krochen ins Hühnerhäuschen,
Versteckten uns unter das Stroh.

Wir krähten wie die Hähne,
Und kamen Leute vorbei –
‚Kikereküh!‘ sie glaubten,
Es wäre Hahnengeschrei.

Die Kisten auf unserem Hofe,
Die tapezieren wir aus
Und wohnten drin beisammen
Und machten ein vornehmes Haus.

Des Nachbars alte Katze
Kam öfters zum Besuch;
Wir machten ihr Bückling’ und Knixe
Und Komplimente genug.

Wir haben nach ihrem Befinden
Vorsorglich und freundlich gefragt;
Wir haben seitdem dasselbe
Mancher alten Katze gesagt.

Wir saßen auch oft und sprachen
Vernünftig wie alte Leut’
Und klagten, wie alles besser
Gewesen zu unserer Zeit;

Wie Lieb’ und Treu’ und Glauben
Verschwunden aus der Welt,
Und wie so theuer der Kaffee,
Und wie so rar das Geld! – – –

Vorbei sind die Kinderspiele,
Und alles rollt vorbei, –
Das Geld und die Welt und die Zeiten
Und Glauben und Lieb’ und Treu’.“

Da sie ins Leben eintrat, war Charlotte, die nicht nur ein geistreiches, sondern auch ein schönes Mädchen war, bald die gefeierte Heldin auf allen Festen und Bällen in Düsseldorf, die allen jungen Männern den Kopf verdrehte und das Herz schwer machte. Als die Eltern Düsseldorf verließen, war es ihre erste Sorge, Charlotte zu verheirathen. Wenn ich recht unterrichtet bin, war es Heinrich Heine selbst, der bei seinem Aufenthalt in Hamburg die Bekanntschaft von Moritz Embden machte und mit diesem fortwährend von seiner kleinen Schwester sprach. Embden war neugierig und wollte das schöne, merkwürdige Mädchen kennenlernen. Als er sie sah, hatte er auch bereits sein Herz verloren; sie wurde seine Gattin, und das Hochzeitsgedicht, welches Heine seiner Schwester bei der Vermählung am 22. Juni 1823 auf dem Zollenspieker zwischen Lüneburg und Hamburg machte, soll alle Festgenossen entzückt haben. Er selbst schrieb an Moses Moser: „Es war ein schöner Tag der Festlichkeit und Eintracht. Das Essen war gut, die Betten waren schlecht und mein Oheim Salomon war sehr vergnügt.“

Als Charlotte von ihrem Bruder Abschied nahm, rieth er ihr, die Verse ihres Gatten – denn Moritz Embden versuchte sich in den Mußestunden, die ihm sein kaufmännischer Beruf ließ, auch als Dichter – nur ja recht eifrig zu loben, denn sonst könnte das Unterlassen leicht eine Uneinigkeit in der Ehe hervorrufen. Im „Buch der Lieder“ findet sich auch ein hübsches Gedicht, welches diesen Rath an seine Schwester wiederholt:

„Und lobst du meine Verse nicht,
Laß ich mich von dir scheiden.“

Die geistige Entwicklung Heines und seinen wachsenden Dichterruhm verfolgte Charlotte mit der innigsten und lebhaftesten Theilnahme. War sie früher seine liebevolle Gespielin, so wurde sie nun auch die aufmerksame, theilnehmende und rathgebende Freundin ihres Bruders, an die er sich in allen seinen Lebensnöthen wenden durfte. Zwischen ihm und seiner Schwester gab es keine Entfremdung, wie oft er auch mit den Brüdern und manchmal sogar mit dem Schwager in Zank und Streit gerathen mochte. Stets war Charlotte die treue und liebenswürdige Vermittlerin, die entweder des reichen Oheims Zorn zu besänftigen oder des Dichters Launen zu beschwichtigen hatte.

Und kein schöneres Zeugniß für des Dichters gemüthstiefe Bruderliebe besitzen wir als das Blatt, welches er in das Album seiner Schwester eingeschrieben:

„Wir können die Menschen füglich in zwey Klassen eintheilen: 1stens diejenigen, die uns lieben, 2tens diejenigen, die uns oft und deutlich sagen, daß sie uns lieben.

Mich, liebes Lottchen, kannst Du dreist zur ersten Klasse rechnen. Ich bin Dir herzlich gut, wenn ich auch nicht viel Aufhebens davon mache.

Dein Bruder
Harry Heine.“

Wenn Frau Charlotte in ihrem stattlichen, in altpatrizischer Weise vornehm ausgestatteten Zimmer in ihrem Lehnstuhle sitzend den Erinnerungen ihrer Jugend nachgeht, dann ist es vor allem jener Triumphzug, den sie auf einer Badereise in den zwanziger Jahren nach dem Rhein und Süddeutschland gemacht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_722.jpg&oldid=- (Version vom 15.2.2023)