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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


schreiben können. Ich wollte sie liegen lassen, um später, wenn meine Geistesfrische abnehmen sollte, was bei meiner geschwächten Gesundheit nicht unwahrscheinlich ist, von diesem Kapital in meinen alten Tagen zu zehren.“

Betty Heine, die Mutter des Dichters, wohnte damals auf dem Neuen Wall, weit von dem Herde des Feuers, das sich aber in den folgenden Tagen immer weiter ausdehnte. Sie siedelte nun zu ihrer Tochter Charlotte nach der Theaterstraße über. Dort lag sie eines Tages schlummernd auf dem Sofa, als plötzlich die Bonne der Kinder schreiend in das Zimmer trat: „Madame, das Feuer hat den Neuen Wall erreicht, wenn Sie noch etwas retten wollen, müssen Sie sich beeilen!“

„Harrys Papiere müssen in Sicherheit gebracht werden,“ erwiderte die alte Frau rasch. „Sie sind in eine Kiste verpackt, die in meinem Schlafzimmer unter einem Schrank steht. Ich muß selbst hin.“

Aber Charlotte wollte dies nicht zugeben. Ohne die Gefahr zu ahnen, der sie sich aussetzte, eilte sie sofort nach dem Neuen Wall, mit dem Versprechen, die Papiere bestimmt zu bringen.

In wahrhaft dramatischer Weise erzählte nun die greise Frau mir das folgende: wie sie glücklich an das Haus gelangt, da erst der untere Theil der Straße brennt, wie sie die Wohnung der Mutter betritt, dort alles erbrochen findet und zwei wild aussehende Menschen im Wohnzimmer bei einer Flasche Wein antrifft. Ohne sie zu beachten, eilt sie flüchtig dahin, wo die Kiste mit den Papieren steht. Aber einer der Arbeiter ist ihr mit einer Axt gefolgt. Unerschrocken wendet sie sich zu ihm: „Schlagen Sie mir die Kiste ein!“ In der Hoffnung, darin Kostbarkeiten zu finden, folgt er bereitwilligst ihrem Befehl, ist aber sehr enttäuscht, nichts als beschriebenes Papier in der Kiste zu finden. Charlotte nimmt nun das ganze Packet mit den Manuskripten, schnürt es zusammen und eilt nach dem Hausflur. Aber ehe sie die Straße erreicht, hat sich die Scene plötzlich in entsetzlicher Weise verändert. Das Feuer ist mit rasender Schnelligkeit näher gerückt, ein furchtbarer Sturm ist ihm vorausgeeilt und ein Funkenregen dringt auch in dieses Haus ein. Jeder Widerstandsversuch ist unmöglich. Ringsum das Geprassel der Flammen, das Krachen der zusammenstürzenden Häuser, das Schreien und Rufen von Frauen und Kindern, das Fluchen der Löschmannschaft, ein wildes Drängen und Stoßen, ein bewußtloses Durcheinander. Sie aber hält krampfhaft das Bündel mit den Manuskripten ihres Bruders fest. Da wirbelt plötzlich eine dichte Rauchwolke durch das Haus, die alles zu ersticken droht, ein funkensprühender Aschenregen versengt ihre Kleider; ihre Kräfte verlassen sie, sie fällt in Ohnmacht und wird von einem Spritzenmann auf seine starken Schultern geladen und fortgetragen. Da sie nach einiger Zeit wieder zur Besinnung gelangt, liegt sie auf einer Bank. Ihr Retter ist verschwunden, aber auch das Packet mit Manuskripten hat sie fallen gelassen und verloren. …

Einen reichen Schatz von großen und merkwürdigen Erinnerungen wie die oben erzählte birgt Charlotte von Embden in ihrem Geiste. Wohl geordnet liegen in ihrem Kopfe alle diese Erzählungen und Gedanken neben einander. Sie hat nichts vergessen in ihrem hohen Alter von ihrer schönen Jugend, sie hat alles treu bewahrt und, wie sie mir wiederholt versicherte, sorgsam aufgeschrieben. Aber sie wünscht nicht, daß diese Erinnerungen und jener Schatz der bereits erwähnten Briefe des Dichters bei ihren Lebzeiten veröffentlicht werden.

Nun denn, so wichtig ist uns keine Erinnerung aus dem Leben Heinrich Heines wie seine eigene Schwester, die ja die schönste Blüthe in seinem Lebenskranze war. Möge es der greisen Frau noch lange beschieden sein, in ungetrübter Heiterkeit und Geistesfrische an dem Göttergeschenk hohen Alters sich zu erfreuen!




Nachdruck verboten.
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Auf schwankem Boden.

Von W. Heimburg.

(1. Fortsetzung.)

Ich schritt der breiten Treppe zu, um in mein Zimmer zu gelangen. Unten hatte ich nichts mehr zu thun; ich sah nur noch, wie der Pfarrer die Gestalt Elisabeths umfaßte und sie über die Stubenschwelle geleitete, denn es war, als wanke sie jetzt unter ihrer Last. Was mochte sie hineintragen in dies stille Haus mit diesem Kinde – an Leidenschaft und Sünde? Mich schüttelte ein Grausen, als ich das Wort wiederholte: „Das Kind eines Mörders und einer Ehrlosen!“ – Dachten sie denn gar nicht daran, daß es einen Gott giebt, der die Sünden der Väter heimsucht an den Kindern?

Ich konnte nicht schlafen; ich öffnete das Fenster und schaute in den Garten; die Nachtigallen sangen, der Mond schien so leuchtend hell, jedes Blättlein versilbernd. Er schien auch wohl in die Kerkerzelle des Mannes, welcher die Frau so unsäglich geliebt, der er den Tod gegeben hatte, und in die Fenster unter den meinigen, wo Elisabeth dem Kinde ein Lager neben dem ihrigen bereitete. Es war noch immer leises Kommen und Gehen dort unten, ich hörte es bis herauf.

Dann ward es stiller, und nun vernahm ich leise und doch deutlich die weiche Stimme Elisabeths: „Hermann, ich danke Dir!“

Dann antwortete er laut und bewegt: „Ja, Elisabeth, laß wieder Frieden werden zwischen uns, es ist die höchste Zeit. Dein Kind – unseres – den lieben Jungen, den strafte ich nicht aus Unduldsamkeit oder aus Aerger wegen seines Ungehorsams. Ich hatte Angst, die furchtbarste Angst, daß er sich bei seinem Umhertoben erkälten könnte; Du –“

Sie weinte jetzt ganz laut, und er schloß das Fenster. Auch ich machte das meinige zu.

So etwas vermag auch nur Elisabeth, dachte ich und sperrte das Mondlicht ab durch die dichten Vorhänge. Weich und trübe war es mir zu Sinne. Ich hätte den Muth nicht gehabt. – Welche Fülle von Seelenstärke, welche Selbstlosigkeit und Liebe, welch Gottvertrauen gehört dazu, dieses Kind ans Herz zu nehmen! –

Am andern Morgen sagte ich meine Ansicht klar und offen dem Pfarrer, als wir – es hatte früh gewittert und eine wundervolle kühle Luft wehte – im Garten auf- und abgingen. Ich sah an seinem blassen Gesichte, daß auch er gesorgt und gewacht hatte in dieser Nacht.

„Liebe Frau Anna,“ erwiderte er, als ich ihm bemerke, daß ich an die Erblichkeit der Charakterfehler und Eigenschaften überhaupt glaube, „wir können nichts weiter thun als unsere Schuldigkeit, und das werden wir mit allen Kräften an dem Kinde thun. Das andere liegt in Gottes Hand. – Elisabeth kam heute früh mit verweinten Augen vom Kirchhofe zurück; ihr Schmerz ist milder geworden, sie lebt wieder, sie ist wieder die Alte mir gegenüber. Ich danke es diesem kleinen Fremdling; Gott segne ihn!“

Ich drückte ihm die Hand, „und segne Sie beide,“ setzte ich hinzu.

Einige Tage später reiste ich ab. Meine Ertrapost rasselte vor das stille Pfarrhaus, und als ich mich noch einmal an der Straßenecke zurückwandte, sah ich Elisabeths feine Gestalt auf der Sandsteintreppe vor der Hausthür stehen, das Kind auf dem Arm, und sie winken und nickten.

„Sie ist besser als Du,“ sagte ich einmal wieder wie schon so oft.

Seitdem hatte ich nur Gutes gehört und gesehen von den drei Menschen im Borndorfer Pfarrhause. Ein überaus liebliches Kind war die Kleine geworden, nicht gerade ein Muster von Artigkeit, wie mir Elisabeth schrieb oder sagte, aber auch durchaus keine Absonderlichkeiten ausweisend in ihrem Charakter. Sie hing mit aller Innigkeit an den Pflegeeltern, die sie nur als ihre eigenen kannte. Von dem Vater hatte man nur einmal in der Zeitung gelesen, daß er bei einer allgemeinen Amnestie aus dem Gefängniß entlassen worden sei, das war aber schon Jahre her. Er hatte sich nicht bekümmert um sein Kind; vielleicht hatte er erfahren, daß es wohl aufgehoben war, und mochte gedacht haben, daß er mit seinem verlornen Dasein den Frieden ihres Lebens nicht trüben dürfe, kurz – er war einer richtigen Adoption nicht in den Weg getreten und Martha Steinkopf längst das rechtmäßige Kind der Pflegeeltern geworden.

Ich hatte, wie gesagt, den heranwachsenden, wirklich allerliebsten Backfisch in dem kleinen Nordseebade gesehen, hatte mich an der Schönheit und dem lieblichen Wesen des Mädchens erfreut

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 724. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_724.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2023)