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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

in ihrer aufgeregten Seele werden. Conventius betrachtete sie halb angstvoll, halb bewundernd. Was war es nur, das ihm so ahnungsvoll das Herz bewegte? War’s nur die Furcht, dies liebreizende Geschöpf, dessen Zauber ihn beim ersten Sehen schon umstrickt gehalten hatte, könnte sich nicht ihm, sondern dem Mann mit dem dunkeln, fesselnden, ausdrucksvollen Gesicht, der dort am Klavier saß, zuwenden, oder konnte es eine andere unerklärliche Bangigkeit sein, die ihn faßte?

Die Fuge war zu Ende, und der Spieler stand auf – mit ihm zugleich die beiden anderen Herren – wenn man denn ging, mußte es zusammen sein.

Thekla erwiderte die Abschiedsworte und Verbeugungen der Besucher mit einem kaum hörbaren Geflüster, ihre Kraft war erschöpft. Annies reizende Hand wurde zweimal sehr ausdrucksvoll geküßt, er, der sie am meisten bewunderte, am heißesten erstrebte, rührte sie nicht an … mit einer tiefen Verneigung trat er zurück.

Als die beiden Schwestern allein waren, drückte Annie nur zweimal auf den elekrischen Klingelzug, um Agathe herbeizurufen, damit sie Thekla beistände. Sie selbst war unfähig, nur eine Silbe zu sprechen, die Thränen benahmen ihr den Athem. In ihrem reizenden Mädchenstübchen mit den hellen Möbeln, den luftigen, blumendurchwirkten Vorhängen und Teppichen brannte bereits eine Lampe. deren Licht durch einen rothen Schleier hindurch einen sanften rosenfarbenen Schein verbreitete. Der kleine Kanarienvogel schlief schon, sein Köpfchen unter den Flügeln geborgen, er saß wie eine Federkugel auf seinem Stäbchen; vom Fenster her wehte fast betäubend der Duft der zahlreichen Frühlingsblumen, von einer zur Seite gerückten Staffelei sahen Richard Gerolds kluge, ernste Augen der Tochter entgegen.

Sie hielt sich an der Platte eines kleinen Marmortischchens fest, abgewandt vom Lampenlicht, als thäte selbst die zarte Rosenfarbe ihrem Blick weh, – das Köpfchen war tief herabgesunken, und rasch und dicht fielen nun die so lange zurückgedrängten Thränen nieder. Sie hatte sich so redlich „ihren Tag verdient“, sie war ganz erwartungsvolles Glück gewesen – vorüber! Zwei Zeilen eines Gedichtes von Chamisso wollten ihr nicht aus dem Sinn, die sagte ihr trauriges, enttäuschtes Herz ihr unaufhörlich vor:

„Nun ist der Tag verloren,
Auf den ich mich gefreut!“




9.

Keinen freundlicheren, willfährigeren Gesellen giebt’s oft auf der weiten Welt als den Zufall. Er führt Leute zusammen, die, sonst durch Tausende von Meilen voneinander getrennt, heute, gerade heute in dieser Stadt, an diesem Ort weilen und sonst vergeblich alles aufgeboten hätten, um einander zu sprechen; er verhindert Böses und bringt Verbrechen ans Tageslicht, deren Enthüllung scharfsinnige Juristen schon aufgegeben hatten, er führt liebende Herzen zusammen, entfernt unwillkommene Zeugen, räumt mit leichter, kluger Hand Hindernisse hinweg, schlägt aller Berechnung ein Schnippchen und führt seine Lieblinge leicht und glatt dem ersehnten Ziel entgegen. Es giebt Leute, denen er sich jederzeit dienstbar macht, die auf ihn bauen wie auf den zuverlässigsten Freund. „Es wird schon irgendwie gut werden, irgend etwas wird uns schon helfen!“ – und siehe da! der brave Helfer ließ sie auch wirklich nie im Stich.

Aber der Zufall hat einen Zwillingsbruder, der ihm ähnlich sieht und doch zugleich so verschieden von ihm ist wie nur möglich. Ein schadenfroher, heimtückischer Gesell ist’s, der seine Freude daran hat, die Menschen ganz dicht bis an das heiß ersehnte Ziel zu locken, um ihnen dann mit höhnischem Lachen den Rücken zu drehen. Gleich seinem Bruder wirthschaftet auch er nur mit ganz kleinen Mitteln: ein Zuspätkommen – ein Blick durch eine Glasthür – ein rasch aufgefangenes Wort – eine kaum nennenswerthe Verzögerung – ein vergessenes Taschentuch – ein Ring – ein verlorenes Armband – eine Blume … aber solch winzige, unscheinbare Sächelchen haben schon Ehen gelöst und Hofintriguen herbeigeführt, Zeitungskriege entfesselt und Skandalprozesse heraufbeschworen, und hinter all’ dem angerichteten Unheil steht mit bösem, spöttischem Gekicher der schlimme Zufall und triumphiert. Er trennt liebende Herzen und richtet es so ein, daß sie sich nie mehr wiederfinden oder doch nur dann, wenn sich ihnen ums Leben keine Gelegenheit zur Annäherung bietet – er kreuzt die Gedanken der Menschen und veranlaßt es, daß der Herr des Hauses beim Mahle eine Dame durch die ganze Breite des Tisches von einem Herrn trennt, dem diese gute Gelegenheit höchst wahrscheinlich die Zunge gelöst hätte, er richtet Verwirrung im Gehirn des Bedienten an und läßt ihn eine Einladung, von der vielleicht das Glück einiger Menschen abhing, um einen Tag zu spät anbringen, er macht, daß Leute, die einander wichtige Dinge in unaufschiebbarer Eile zu sagen haben, sich gegenseitig nie zu Hause finden, und führt ihnen unliebsame Persönlichkeiten gerade da zu, wo sie dieselben am wenigsten brauchen können. Und wenn dann die Menschen weinen und fluchen und toben oder seufzen und traurig sind, dann hat der Bösewicht recht sein Fest an ihrem Kummer!

Solch einem bösen Zufall glaubte sich Annie Gerold, bisher ein Schoßkind des Glückes und von dem guten Zwillingsbruder gehörig verzogen, nun rettungslos verfallen! Wenn sie sich auch sagte, Delmonts Neigung zu ihr – sie wagte kaum mehr, das Wort „Liebe“ zu denken! – werde durch ein ärgerliches Zusammentreffen nicht augenblicklich den Todesstoß erhalten … wer weiß, was ihm angesichts Reginalds von Conventius für Gedanken, für neue Gesichtspunkte gekommen waren! Der Rittmeister zählte für Annie nicht mit, er wäre sehr empört gewesen, wenn er dies gewußt hätte, aber die Thatsache war da. Das junge Mädchen sah ihn nur als einen unbequemen Störenfried an, der eine an sich schon unbehagliche Lage noch unbehaglicher gemacht hatte. Aber Reginald! Er, so schön, so begabt, so gut gestellt! Und über seine Absichten konnte man kaum in Zweifel sein, Annie war es keinen Augenblick seit seinem letzten Besuch gewesen, und Delmont mußte es ebenso ergehen. Delmont hatte noch kein bindendes Wort zu ihr gesprochen, nur seine Augen hatten eine deutliche Sprache geführt – nun, das bewies noch nichts, das legte nicht die leiseste Verpflichtung auf! Er konnte denken, Reginald sei der bevorzugte Bewerber; leicht empfindlich, reizbar, mißtrauisch wie er war, konnte er stillschweigend zurücktreten und jenem das Feld räumen, ohne nur noch einen Versuch zu seinen eigenen Gunsten zu machen. Seinem leidenschaftlichen, stolzen Wesen hätte das ganz ähnlich gesehen.

Eben weil Annie Gerold ein Glückskind war, traf sie diese Enttäuschung besonders hart. Es handelte sich um ihr Lebensglück, und dies schien ihr jetzt vernichtet. Mit aller Leidenschaft ihrer jungen, reichen Seele hatte sie diesen Mann geliebt, ihn für sich ersehnt, mit derselben Leidenschaftlichkeit hielt sie ihn jetzt für sich verloren. Sie hatte in der Nacht schlecht geschlafen und viel geweint, und sie fühlte sich wenig entlastet von ihrem Kummer. Die köstliche Frühlingssonne, die in ihr Zimmer hereinleuchtete, erschien ihr wie ein Hohn, das geschäftige Treiben auf den Straßen kam ihr unerquicklich und zwecklos vor. Ganz in aller Frühe schon schickte Frau Hedwig Weyland zu ihr: es sei ein so wundervoller Frühlingstag, ob sie nicht um halb zwölf Uhr in Heinrichslust mit einander zusammentreffen und dort ein paar Stunden verbleiben wollten; der Park sei um diese Jahreszeit zauberhaft.

Meinetwegen! Annie war es ganz gleichgültig, wo sie sich befand und was sie trieb! Ihren Gedanken konnte sie doch nicht ungestört nachhängen, sicher würde Besuch kommen oder sie sollte Thekla vorlesen … da war es am Ende noch besser, mit der stets liebenswürdigen, feinfühlenden Hedwig zusammen zu sein und sie zum lebhaften Geplauder zu veranlassen. Man sagte dann ab und zu „ja – nein – nicht möglich – gewiß –“ und damit war es abgethan. In ihrem ungestümen Herzenskummer machte sich’s Annie nicht klar, daß solche Antworten bei ihr bisher zu den Unmöglichkeiten gehört hatten und deshalb einer klugen Frau viel zu denken geben würden.

Agathe kam diensteifrig herein. „Was wünscht mein Vögelchen anzuziehen? Hier – nicht wahr – das lichtblaue Kleid und den großen gleichfarbigen Hut mit der langen, weißen Straußenfeder? Heut ist ja der erste Mai und ein Wetter wie mitten im Juni, fünfzehn Grad schon jetzt, wie wird das erst gegen Mittag werden? Schade, daß in Heinrichslust vormittags nicht so viele Menschen sind, die Hauptmasse kommt da erst nachmittags heraus, ebenso die schönen Wagen. Jetzt noch den weißseidenen Shawl über den Arm! Alles weiß und blau – es muß doch schön stimmen, nicht wahr, mein Töchterchen?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_742.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)