Seite:Die Gartenlaube (1890) 747.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

sah, wie der Mann vor ihr fahl im Gesicht wurde und sein Mund zu zucken begann, da hatte sie triumphirend geschlossen: „Siehst Du wohl, jetzt thut es Dir leid!“

Ja, es that ihm leid! Das blonde Kind vor ihm, das mit seinem klaren Stimmchen aus seinem kleinen, einfältigen Herzen heraus so eindringlich zu ihm sprach, und der Blumenduft, der ihn sanft umschmeichelte, der Sonnenstrahl, der warm und golden durch das Fenster sah, rüttelten an seiner Seele. Oeffneten sich nicht dort die Blumenkelche, und stiegen aus ihnen nicht Traumgestalten auf, die er lange, lange für immer begraben wähnte? Fromme Wünsche und gute Vorsätze aus Kindertagen, ach, und fernes, fernes Kirchenglockengeläut’ und liebe, halbvergeßene Gesichter, und endlich die Gestalt, die Stimme, die er nicht hatte von sich bannen können, ob er’s auch noch so ernstlich gewollt, die Gestalt und Stimme des Mannes, den er mit Spott und Hohn von sich gewiesen und der kein hartes Wort für ihn zur Erwiderung gefunden, der ihm Bücher geschickt und Blumen und ihn voll tiefen Erbarmens angesehen hatte aus seinen schönen, mitleidigen Augen! Es konnte diesem Prediger doch gleichgültig sein, was am Ende mit der sündigen Seele eines Verworfenen geschah, aber es war ihm nicht gleichgültig. Der Verbrecher hatte es gefühlt, nein, gewußt, vom ersten Augenblick an: aus diesem Manne sprach nicht der berufsmäßige Eifer des Priesters, der seinem Namen mit der Bekehrung eines Sünders Ehre machen will … der Geist der Liebe sprach aus ihm, der alle kennt und alle umfaßt, ob sie sich ihm noch so störrisch entziehen, das feste, unerschütterliche Gottvertrauen, das da spricht: „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!“

Als der Schließer Remmler sich von dem andern Gefangenen, der über Fieber und Lungenstiche geklagt und den Gefängnißarzt verlangt hatte, endlich frei machen konnte und die Zelle Schönfelds wieder betrat, bot sich ihm ein überraschender Anblick. Der zum Tode verurtheilte Verbrecher hielt Gretchen im Arm, und das Kind schmiegte seinen blonden Kopf so zutraulich an ihn, als läge es an seiner Mutter Brust. Als der Vater hereintrat, hob sie ihr Gesichtchen zu ihm empor und sagte ruhig und freundlich:

„Vaterchen, dieser hier will so gern unsern Herrn Prediger haben! Darf ich hingehen und ihn holen?“




11.

Frau Agathe Lamprecht trat, etwa zwei Stunden nachdem Annie ihren Ausflug nach Heinrichslust unternommen hatte, in Theklas Zimmer, in welchem die Besitzerin dieses Zimmers saß und so vertieft in Lessings „Erziehung des Menschengeschlechtes“ war, daß sie gar nicht auf die Eintretende acht gab.

Agathe war nicht gewillt, wie sonst manchmal, wenn das gelehrte Fräulein in seine Studien vertieft war, geräuschlos und rücksichtsvoll davonzuschleichen. Die Dame sollte durchaus sehen, was sie – Agathe Lamprecht – in der Hand trug, und mit ihr Meinungen austauschen, von wem es kommen und was es wohl bedeuten könnte: der alten Getreuen war das Herz übervoll, das „Vögelchen“ war ausgeflogen, ihr „Alter“ hatte so wenig Verständniß für zarte Angelegenheiten, … Thekla mußte herhalten, das stand fest, ganz fest!

Der gute Hausgeist räusperte sich bescheiden, – es half nichts! Die „Erziehung des Menschengeschlechtes“ hatte die aufmerksame Leserin in ihre Fesseln geschlagen und ließ sie nicht los. Ein zweites Hüsteln, weit bedeutsamer und nachdrücklicher, wurde laut. Thekla blickte mit zusammengezogenen Brauen empor, aber ihre Miene erweiterte sich, als sie das lebende Bild gewahrte, welches sich ihr bot: die alte Agathe, die in der rechten Hand, weit von sich gestreckt, als wenn sie sich damit zu verletzen fürchtete, einen großen, herrlichen runden Blumenstrauß hielt, von einer kostbaren gestickten Spitze umgeben und unten von einer sehr breiten Moiréschärpe von zartestem Rosa zusammengehalten. In der andern Hand hielt sie einen Brief mit vorsichtig gespitzten Fingern, als wäre er ein feuergefährlicher Gegenstand.

„Wie sehen Sie denn aus?“ lächelte Thekla und legte den Lessing fort. „Wie ein verblüffter Hochzeitsbitter weiblichen Geschlechts. Was soll denn das?“

„Ein Lohndiener hat’s gebracht, ein fremder. Für unser Anniechen!“ – Agathe vermochte in ihrer Erregung nur in abgebrochenen Sätzen zu sprechen und flüsterte so gepreßt, als wenn sie das größte Staatsgeheimniß verriethe. „Was soll ich nun bloß thun, Fräulein Thekla –?“

„Thun? Dem Menschen ein Trinkgeld geben.“

„Das hab’ ich ja schon gethan –“

„Dann den Strauß in eine Vase setzen – nicht so nahe – dort aufs Fenster – und ruhig abwarten.“

Diese kaltblütige Auffassung war keineswegs nach Agathens Sinn.

„Aber nun der Brief?“

„Den legen Sie säuberlich daneben – so!“

„Ach Gott, Fräulein Thekla, von wem kann er sein? Passen Sie auf, jetzt nehmen sie uns bald unser Vögelchen weg!“

„Kann schon sein!“ Thekla unterdrückte einen Seufzer. „Das ist ja aber nicht das erste Mal, daß wir so etwas“ – sie winkte mit den Augen nach dem Fenster hin – „ins Haus bekommen!“

„Das nicht, – aber – ich weiß auch nicht, – mir kommt es so vor, als wenn das Vögelchen selber Lust hätte, auszufliegen. Wär’s denn auch ein Wunder? Ihre Mutter, die war noch kaum so alt, da wußte sie schon, wen sie haben wollte, – und wenn ich mir die drei Herren von gestern bedenke, … Fräulein Thekla, auf welchen von den dreien haben Sie Verdacht?“

Die Gefragte mußte wieder lächeln.

„Seien Sie doch kein solch’ altes Fragezeichen, Agathe! Können Sie es denn nicht ruhig abwarten?“

„Nein, das kann ich nicht! Wie soll es mir einerlei sein, wen mein Anniechen zum Mann nimmt! Gott, Gott, mir drückt es das Herz ab! Wollen Sie sich nicht den Brief noch einmal ansehen, Fräulein, ob Sie vielleicht die Handschrift kennen? Soll ich ihn reichen?“

„Nein, das lassen Sie bleiben! Man erfährt das alles zeitig genug!“

„Wenn ich nicht wüßte, Fräulein Thekla hätten ebensogut ein Herz wie jeder andere gewöhnliche Mensch, dann müßt’ ich jetzt daran zweifeln! Wer weiß nun, wo das Kiud herumtrödelt in Heinrichslust und ihre Frau Weyland sucht und nicht findet und sich Gedanken macht, und ahnt gar nicht, was hier auf dem Fensterbrett für sie parat steht! Wenn es doch nicht der große, ernste Herr wäre, der gestern bei uns Klavier gespielt hat! Ich hab’ ihn oft auf der Straße getroffen, immer so finstere Augen macht er und ist immer in Gedanken und sieht keinen Menschen recht an; das ist kein Mann für unser Kind! Musik machen, ja, das kann er, und Maler soll er sein; ob er aber eine Frau ernähren könnte?“

„Zehn Frauen, Alte, nicht bloß eine!“

„Na, Gottlob, in der abscheulichen Türkei leben wir hier nicht! Also er könnte es? Wenn auch! Mir gefällt der andere besser, der Schöne, Blonde, so mild und gut sieht der aus, und künftigen Sonntag geh’ ich in seine Predigt. Da läutet es wieder – das Vögelchen ist das nicht, bei der klingt es anders!“

Es dauerte eine Weile, ehe Agathe wieder hereinkam, aber Thekla nahm dennoch ihr Buch nicht wieder auf. Sie war nachdenklich geworden, sie beschäftigte sich innerlich mit Annies Schicksal, und sinnend ruhte ihr Blick auf den halberschlossenen blassen Rosen des schönen Straußes, die einen schwachen, süßen Duft bis zu ihr sendeten.

Die Thür that sich auf und Agathe erschien von neuem.

Bis auf wenige Züge war es dasselbe Bild: wieder hielt sich die Getreue in der weit fortgestreckten Rechten ein Bouquet vom Leibe, wieder hatten ihre Fingerspitzen einen Brief gefaßt, wieder malte sich namenlose Wißbegierde auf ihrem Antlitz, nur war dieser Ausdruck jetzt mit einem gewissen rathlosen Entsetzen gepaart, und das Bouquet wies nicht wie das erste einen Reichthum wundervollster Rosen und eine feine Zusammenstellung zarter Farben auf, sondern es war ein radgroßes Ungethüm, aus den seltensten fremdartigen Blumen gebildet, offenbar sehr kostspielig, aber ohne besondere Wahl geordnet.

Thekla legte sich in ihren Sessel zurück und lachte herzlich.

„Nun. Agathe, ich bitte Sie, versuchen Sie’s, ein etwas geistreicheres Gesicht zu machen, mir zuliebe, ja? Auf dem Fensterbrett ist ja noch mehr Raum, da stellen Sie getrost das Scheusal hin!“

„Scheusal?“

„Ich finde, es ist eines! Alle Farben des Regenbogens sind darin und noch ein paar mehr! Und diese ungeheuerliche

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 747. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_747.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)