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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Unschuldig verurteilt!
Beiträge zur Geschichte des menschlichen Irrthums.
I.
Die Passionsgeschichte der Menschheit. – Ludwig von der Pfalz und Maria von Brabant. – Der Rabe von Merseburg. – Die Hexenprozesse. – Das erpreßte Geständniß. – Die verrätherische Uhr. – Das vergiftete Brot. – Bruder und Schwesterchen. – Geständniß aus Edelmuth. – Opfer des Zufalls. – Eugenie von Tourville.

Nichts vermag mehr die Theilnahme des menschlichen Herzens zu erregen als unverschuldetes Unglück und Leid. Dem Träger eines solchen wird sich immer das allgemeine Mitleid zuwenden. Die christliche Passionsgeschichte hat dem Christenthume die Welt erobert. In der Leidensgeschichte der Menschheit spielt insbesondere das unverschuldete Verbüßen von Strafen eine Hauptrolle. Wenn man dabei von Opfern der Justiz zu sprechen pflegt, ist es doch nicht die Justiz, welche die alleinige Verantwortung für das angethane Unrecht trägt. Ihre Verantwortung ist dabei vielfach nur eine formelle. Zu ihren Mitschuldigen gehören auch die anderen Wissenschaften, welche in ihrem Dienste stehen, denn der Irrthum durchdringt alle Gebiete des Wissens. Zu ihren Mitschuldigen gehört der Zufall, die unberechenbare Verkettung der Umstände. Zu ihren Mitschuldigen gehört endlich der Trug der Sinne und die menschliche Bosheit sammt dem Gefolge blinder Leidenschaften.

Wenn wir in Aussicht nehmen, eine Anzahl von Beispielen aus der Geschichte dieser Irrthümer der Justiz unseren Lesern vorzuführen, so geschieht dies theilweise im Anschluß an einige frühere Artikel in den Jahrgängen 1884 und 1887 der „Gartenlaube“ („Die irrende Justiz und ihre Sühne“), welche zunächst bestimmt waren, für die Entschädigung unschuldig Bestrafter einzutreten, eine Angelegenheit, die nicht zum geringsten infolge der lebhaften Agitation der Presse jetzt auf dem Wege zu einer gesetzlichen Regelung zu sein scheint. Wir wollen aber auch zeigen, wie wenig der menschliche Unfehlbarkeitsglaube vor der Macht der Thatsachen Stich hält und der Mensch trotz aller eingebildeten Ueberlegenheit doch vielfach nur der Sklave der Verhältnisse ist.

Schon die Chroniken des Mittelalters überliefern uns eine erschütternde Tragödie des menschlichen Irrthums. Maria von Brabant war in glücklicher Ehe vermählt mit dem Pfalzgrafen Ludwig, Herzog von Bayern, dessen Schwester Elisabeth die Gemahlin des Kaisers Konrad IV. gewesen war. Als deren Sohn Konradin, dem Rufe der Hohenstaufen folgend, im Jahre 1267 nach Italien zog, begleitete ihn sein Oheim Ludwig auf dem verhängnißvollen Zuge. Maria sah den Gemahl nur mit heißem Bangen von sich ziehen. Es war, als ob sie eine Ahnung von dem unglücklichen Ausgang des Unternehmens gehabt hätte. Da ihre Bitten des Pfalzgrafen Entschluß nicht zu beirren vermochten, wandte sie sich an einen treuen Vasallen aus dessen Gefolge, den Ritter Ruso von Ottlingen, und nahm ihm das Versprechen ab, daß er alles aufbieten wolle, seinen Herrn zur Heimkehr zu bewegen. Sie stellte ihm dabei eine Gunst in Aussicht, die sie denen zu gewähren pflegte, welche mit besonderem Pflichteifer ihrem Dienste nachkamen, die Gunst, daß sie die Herrin mit einem traulichen Du anreden durften. Alles strebte nach dieser Auszeichnung der wohlwollenden, allseits geliebten Frau. Da ihre Sehnsucht nach dem fernen Gatten täglich zunahm, ohne daß seine Rückkehr erfolgte, schrieb sie an Rufo einen Brief, in welchem sie ihn an sein Versprechen erinnerte und ihm dafür die „erbetene Gunst“ zusicherte; zugleich mit diesem übergab sie dem Boten auch einen Brief an Ludwig selbst. Nun wollte es der Zufall, daß der Bote die Briefe verwechselte und der für den Ritter bestimmte in die Hände des Herrn gelangte. Als dieser nun las, wie seine Frau dem Ritter eine „erbetene Gunst“ zusicherte, nahm der Zorn wilder Eifersucht in seiner Seele Platz; er verließ auf der Stelle das Lager zu Verona, wo er weilte, und jagte auf schnellem Rosse nach Marias Residenz Donaueschingen. Schon beim Eintritt ins Schloß stieß er den ungetreuen Burgvogt nieder und trat der in heller Freude über seine Rückkehr ihm entgegeneilenden Gattin mit der Erwiderung entgegen, sie möge sich zum Tode vorbereiten. Vergebens war die Betheuerung ihrer Unschuld, vergebens das eindringliche Flehen seiner Schwester, der Königin Elisabeth – der Beweis der Schuld wurde ja durch die Worte des Briefes unumstößlich geführt. Noch in derselben Nacht wurde das Urtheil über die arme Herzogin gesprochen und sie noch vorm Morgengrauen durch den Henker enthauptet.

Das unselige Mißverständniß klärte sich nur zu bald auf, als der Pfalzgraf den für ihn bestimmten Brief in die Hände bekam, der ein rührendes Zeugniß treuer Gattenliebe enthielt, und er Kunde empfing von der unschuldigen Gewohnheit Marias. So fürchterlich die That, so fürchterlich war Ludwigs Reue. Die Qual des Schmerzes bleichte ihm in einer Nacht das Haar. Er baute zur Sühne, das Kloster Fürstenfeld und kasteite sich in strengster Buße.

In einer weitern mittelalterlichen Ueberlieferung kommt die Unschuld in wunderbarer Weise zu Tage. Thilo von Trotha, Bischof zu Merseburg, hatte im Jähzorn einen Jäger getödtet, weil er auf der Jagd eigenmächtig einen Hirsch geschossen hatte. Sein Freund, der Bischof Gerhard von Mainz, setzte ihn ob dieser That zur Rede und sandte ihm einen Ring, der ihn immer daran


Das Behaim-Denkmal in Nürnberg, entworfen von Hans Rößner.
Nach einer Photographie von Ferdinand Schmidt in Nürnberg, Burgberg 24.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 749. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_749.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)