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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Diesmal ißt auch der Mann mit, aber da es ihm nicht schmeckt, nur ein paar Löffel. Die Frau verzehrt den ganzen Rest. Der Mann hatte in die Milch Brot eingeschnitten, das er dem Schranke entnahm. Darauf wird beiden übel, der Mann erholt sich zwar bald wieder, die Frau dagegen bekommt heftige Leibschmerzen und ist nach zwölf Stunden todt. Beide haben vorher entdeckt, daß auf dem Boden der Schüssel ein weißes Pulver zurückgeblieben ist. Woher das kommt, ist ihnen nicht erklärlich. Sofort fällt der Verdacht auf den Mann. Die Beweisgründe sind aber doch nicht so stark, daß man ihn ohne sein Geständniß verurtheilen kann. Der Mann leidet an Epilepsie; nach einem solchen Anfalle räumt er das Verbrechen dem auf ihn eindringenden Richter ein. Dies genügt, nunmehr seine Verurtheilung, und zwar zum Tode, herbeizuführen, die Strafe wird durch Enthauptung vollzogen. Nachdem dies geschehen ist, kehrt eine Ortsnachbarin, die Witwe Schauer, von einem siebenmonatigen Aufenthalt bei ihrer auswärts wohnenden Schwester wieder heim. Als sie die Hinrichtung Rothes erfährt, ruft sie aufs tiefste erschrocken aus: „O das Unglück! Wenn ich das hätte denken sollen, hätt’ ich’s nicht gethan. Das ist mein Tod.“ Darauf machte sie folgende Angaben: Sie hatte sich in Gemeinschaft mit der Frau Rothe Rattengift verschafft zur Vertilgung der vielen Mäuse in ihren Wohnungen. Die Rothe hatte ihrem Manne nichts davon gesagt, weil derselbe ihr verboten hatte, Gift zu legen, und sie hatte deshalb das Gift in ein Brot gebacken, damit er’s nicht merke. Das Brot war bereits aufgezehrt und hatte seinen Zweck an den Mäusen erfüllt. Da kam die Frau Schauer auf den Gedanken, das Arsenik auch ihrerseits in Brot zu verbacken. Als sie nun zu ihrer kranken Schwester gerufen wurde, mochte sie das erst halb verbrauchte Giftbrot nicht zu Hause lassen, damit es keinen Schaden anrichte. Sie trug es deshalb zur Rothe, um es ihr zur Aufbewahrung zu übergeben. Sie trifft dieselbe nicht zu Hause und legt das Brot, da ihre Abreise eilt, in den Rotheschen Schrank, indem sie der anwesenden halberwachsenen Wernerschen Tochter aufträgt, der Frau Rothe zu sagen, daß das Brot nach ihrer Vorschrift gebackenes „Mäusebrot“ sei, und verbietet zugleich der Kleinen, davon zu essen. Diese unterläßt es jedoch, den Auftrag auszurichten, weil sie in ihrer kindlichen Klugheit glaubt, die Frau sage das bloß, um sie vom Naschen abzuhalten. Zu ihrem Glücke unterläßt sie es jedoch, von dem Brote zu essen, da sie noch anderes im Schranke findet. Dieses Schauersche gifthaltige Brot war es also, das der unglückliche Rothe in die Milch geschnitten hatte, und diese arglose Verwechslung wurde sein Verhängniß.

Auf eine moderne Anwendung der Folter zum Erpressen eines Geständnisses läuft ein Fall aus neuester Zeit hinaus. Als der dreizehnjährige Sohn der Witwe Nordheim in Mehlis, einem Orte im Thüringerwalde, von der Schule nach Hause kam – es war am 13. November 1879 – bemerkte er, daß sein kleines kaum drei Monate altes Schwesterchen, das allein in der Wiege lag, indeß die Mutter auswärts auf Arbeit war, am Munde roth gefärbt war. Er wischte ihm den Mund ab und gab ihm einen frischen „Nuckel“, wobei ihm auffiel, daß der alte Nuckel schwarze Flecken hatte und wie nach Schwefel roch. Auch nahm die heimkehrende Mutter wahr, daß die Exkremente des Kindes hell leuchteten, und es war, als wenn kleine Flämmchen daraus hervorbrächen. Es war also jedenfalls darauf abgesehen gewesen, das Kind zu vergiften. Die Nachbarschaft lenkte den Verdacht der Thäterschaft sofort auf den dreizehnjährigen Albert. Der Hauswirth, Fabrikbesitzer B., nahm den Jungen ins Gebet, und da er leugnete, ließ er ihn durch Arbeiter mit einem Haselstock unbarmherzig ausprügeln. Die grausame Mißhandlung preßte dem Jungen auch wirklich ein Geständniß ab. Er hatte danach seine Schwester mit Schwefelhölzern vergiften wollen, um ihrer Pflege enthoben zu sein. Aus Furcht vor weiteren Mißhandlungen blieb er auch bei diesem Geständniß vor Gericht, und so wurde er wegen Mordversuchs zu sechs Monaten Gefängniß verurtheilt. In der Gefängnißanstalt zu J. aber benahm sich der geistig geweckte Knabe so brav, daß er die Aufmerksamkeit des Anstaltslehrers und zugleich Zweifel an seiner Schuld erweckte. Dieser Zweifel wurde verstärkt, als der Junge einen Brief an seine Eltern schrieb, in dem er sich auf die liebevollste Weise nach dem Befinden seines Schwesterchens erkundigte, ein Brief, der vorschriftmäßig erst in die Hände des Anstaltsdirektors kam. Dieser veranlaßte die Wiederausnahme der Untersuchung, und es ergab sich nun, daß, wie bereits die Mutter vermuthet hatte, der außereheliche Vater des Kindes, der Fabrikarbeiter A., der Thäter war. Während die Mutter bei der Arbeit und der Sohn Albert in der Schule war, hatte jener sich nach seinem später abgelegten Geständnisse durch die offenstehende Thür in die Stube geschlichen, von dort liegenden Schwefelhölzern den Phosphor abgeschabt und auf den Nuckel gestrichen, den er dem Kinde dann wieder in den Mund schob. Er hatte an dem Ableben des Kindes ein wesentliches Interesse, da er Unterhaltsgelder für dasselbe zahlen mußte, was ihm, dem verheiratheten, mit Kindern schon gesegneten Familienvater, sehr schwer fiel. Er wurde zu drei Jahren Zuchthaus verurtheilt und der arme Junge, dem die Rettung des Schwesterchens so schweres Leid gebracht hatte, der Haft entlassen.

Daß aber selbst ein ganz unbeeinflußtes und daher scheinbar freiwilliges Geständniß noch keine Gewähr bietet für die wirkliche Schuld des angeblichen Thäters, dafür liefert die Kriminalgeschichte mannigfach Beispiele. So ist schon der Fall vorgekommen, daß der jüngere Bruder das Vergehen seines älteren Bruders auf sich nahm, um diesen der Familie zu retten, welche sein Leben und seine Freiheit zu ihrer Erhaltung bedurfte. Es kann aber auch Vorkommen, daß jemand aus krankhaftem Wahn sich für einen Verbrecher hält. Es geschieht das bei Leuten, – sagte ein ärztlicher Sachverständiger in einem Falle, wo eine Frau vierundzwanzig Jahre nach dem Tode ihres Mannes vor Gericht anzeigte, sie habe ihn vergiftet, – die seit Jahren am Herzen und an Angstgefühlen leiden; die letzteren steigern sich bis zum Trübsinn, und in einem solchen Zustande vergrößern die Leidenden früher begangene Fehler und Sünden oder bilden sich die ungeheuerlichsten Verbrechen ein. Der gewissenhafte Richter wird deshalb auch ein scheinbar offenherziges Geständniß einer strengen Prüfung, namentlich auch aus die Uebereinstimmung mit dem äußeren Thatbestande, unterziehen.

Gar manche aber führt nicht der Mangel menschlicher Einrichtungen, sondern die räthselhafte Verkettung verschiedener Umstände zur Haft und auf die Anklagebank, und sie haben es dabei oft wieder nur dem Zufalle zu danken, wenn die rettende Aufklärung nicht zu spät kommt. Das sind die bedauerlichsten Opfer fehlerhafter Rechtsprechung. Und dabei ist fast niemand sicher, nicht selber ein solches Opfer der Verhältnisse zu werden.

Mistreß Rushton, eine reiche Londoner Kaufmannswitwe, hatte Fräulein Eugenie von Tourville als Gesellschafterin angenommen. Sie entdeckte bald, daß ihr Sohn Arthur sich leidenschaftlich in das reizende Mädchen verliebt hatte. Sie setzt dieses darüber hart zur Rede und Eugenie verläßt, um sich den Vorwürfen zu entziehen, das Haus. In der Eile des Einpackens ihrer Habseligkeiten nimmt sie einen Schmuck mit, der nicht ihr, sondern ihrer seitherigen Gebieterin gehört. Mistreß Rushton eilt der Abgezogenen nach, um sie zur Rede zu setzen, und beschuldigt sie in Gegenwart ihres kranken Vaters, zu welchem sie ihre Zuflucht genommen hat, des Diebstahls. Zur Stillung ihrer Aufregung bittet sie um eine Erfrischung. Eugenie holt aus dem Nebenzimmer ein Glas mit Kirschwasser, wie es ihr Vater zu trinken pflegt. Als Frau Rushton nach Hause kommt, befällt sie ein plötzliches Unwohlsein. Sie stirbt. In derselben Nacht stirbt aber auch Eugeniens Vater. Hat diesen auch nur die Aufregung getödtet, so war es keine Frage, daß Eugenie ihre frühere Dienstherrn vergiftet hatte. Der Beweggrund: die Beseitigung einer verhaßten Anklägerin und der Gegnerin ihres Verhältnisses zu dem Sohne, lag nur zu nahe. Ihre Verurtheilung schien unvermeidlich und schon gab ihr Vertheidiger alle Hoffnung auf, sie zu retten. Da tritt plötzlich im Orte das Gerücht auf, daß ein Herr Charles Bernhard de Houffaye sich selbst entleibt habe und daß unter seinen Papieren sich die Niederschrift eines eigenthümlichen Selbstbekenntnisses befinde. Danach hatte er sich in Eugenie verliebt und strebte nach ihrer Gunst. Um diese zu gewinnen, durfte das Mädchen nicht erfahren, daß er bereits verheirathet war. Dieser Umstand war nicht ihr, wohl aber ihrem Vater bekannt, und Eugenie würde es von demselben nur zu bald erfahren haben – sein Mund mußte stumm gemacht werden. Er besuchte den Alten und mischte Gift in das gewöhnliche Getränk des Kranken. Der Zufall aber suchte sich ein anderes Opfer, ein Opfer, das auch selbst nicht ohne Schuld war. Ohne dieses Bekenntniß des Selbstmörders wäre Eugenie von Tourville, hier die Schuldloseste von allen, der Verurtheilung kaum entgangen. Sie heirathete nach Anerkennung ihrer Unschuld Arthur Rushton, lebte mit ihm in glücklicher Ehe und starb erst 1850 in Irland.

Fr. Helbig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 751. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_751.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)