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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Ich habe ihr zugelächelt.

„Bravo!“ schreit ein naseweiser Student; die andern beginnen zu klatschen, auf der Galerie lacht laut eine gewöhnliche grobe Stimme.

„Ruhe!“ schallt es aus dem Parkett zurück.

Die Scene mit Mephisto, Martha und Gretchen schleppt sich vorüber. Nur einmal lösen sich die Mienen der letzteren und in packender Wahrheit ringt es sich von ihren Lippen:

„Ach, daß die Menschen so unglücklich sind!“

Dann kommt sie an Faustens Arm. Sie ist in ihrer Persönlichkeit ganz das zagende Kind, das zum ersten Male liebt, aber ihr Spiel ist halbscheu, leblos. Mir scheint jetzt, daß Faust unzufrieden mit seiner Partnerin ist; ein paar Mal flüstert er ihr rasch etwas zu, und ein finsterer Zug verdrängt für einen Augenblick den vorgeschriebenen Ausdruck des Entzückens auf seinem Gesicht. Vergebens, sie spricht weiter mit matter Stimme:

„Ich fühl’ es wohl, daß mich der Herr nur schont.“

Kaum die Fingerspitzen liegen auf dem Arm des Mannes. – Das Wechselspiel der beiden Paare zieht vorüber, Gretchen steht wieder im Vordergrund. Faust sagt:

„Und Du verzeihst die Freiheit, die ich nahm?
Was sich die Frechheit unterfangen,
Als Du jüngst aus dem Dom gegangen?“

Und sie antwortet:

„Ich war bestürzt, mir war das nie geschehn!
Es konnte niemand von mir Uebles sagen.“

„Weiter nichts, als daß sie ’mal ein bißchen mit einem Schauspieler durchgebrannt ist!“ brüllt die grobe Stimme von der Galerie, und im selbigen Augenblick ist es, als sei der Teufel los. Ein wahnsinniges Zischen und Gejohle, ein Getrampel von Hunderten von Menschenfüßen. – Die Polizei stürzt herein und gebietet umsonst Ruhe. Es ist eine unbeschreibliche Verwirrung, die Borndorfer rächen ihren Pfarrer, die Studenten den Korb, den sie erhalten haben.

Von der Bühne ist Gretchen verschwunden, ich habe nicht gesehen, wie? Nur Mephisto steht da und bemüht sich umsonst, zu sprechen; als das nicht gelingt, fällt der Vorhang. Der Rang hat sich geleert, das anständige Publikum verläßt das Parkett. Nur ich vermag mich nicht zu rühren; wie festgebannt sitze ich auf meinem Stuhl und höre den tobenden Lärm.

„Weiterspielen! Bravo! Da Capo!“ Zischen und Rufen.

Endlich ermanne ich mich und trete auf den Gang hinaus. Die Thür nach dem Bühnenraum ist offen; ich gehe die kleine Treppe hinab und stehe hinter den Coulissen. Mephisto rast förmlich; das Mädchen liegt schweratmend in den Armen einer alten Choristin, die hellen Schweißperlen auf der Stirn. Sie sieht an mir vorüber, sie ist taub für die Beleidigungen des Direktors, sie starrt nur immer Faust an, der vor ihr steht in dem abgeschabten lila Sammetanzug, unter der Schminke erblaßt, bebend vor Zorn und Leidenschaft.

„Sie spielen weiter, auf der Stelle spielen Sie weiter!“ schrillt die Stimme des Direktors dazwischen.

Sie streckt die Hände aus nach dem Manne, der sie noch gestern geherzt und geküßt. Da fliegt etwas Blitzendes in ihren Schoß und Faust hat sich gewandt; der kleine funkelnde Gegenstand rollt aus den Falten ihres Kleides zur Erde und weiter ein Stück über die Bühne, dort am Souffleurkasten bleibt er liegen; ein schlichter goldener Ring ist es. Kaum eine Sekunde hat es gewährt, kaum jemand es gesehen, nur die immer starrer werdenden Augen des Mädchens sind ihm gefolgt.

Der Direktor, der wohl einsehen mag, daß sie unfähig ist zum Spiel, glaubt den geeigneten Zeitpunkt gefunden zu haben, ihr unverhohlen seine Verachtung ins Gesicht zu schleudern.

„Sie thun gut, mein Fräulein, die Bühne zu verlassen – für immer, meine ich; Sie haben ohnehin kaum die Aussicht, bis zur Mittelmäßigkeit zu steigen. Sie können gehen, heute noch, wenn’s beliebt, die rückständige Gage –“

„Herr Direktor, bitte,“ unterbreche ich ihn empört, „sehen Sie nicht, daß sie krank ist?“

„Madame,“ schnaubt er mich an. „Sie haben hier nichts zu suchen!“

Ein Polizeidiener bedeutet mich, ich müsse mich entfernen, es sei Unbefugten nicht gestattet, die Bühne zu betreten. Ich befinde mich im Umsehen wieder im Gange des Theaters.

Die Menge da drinnen tobt noch immer. Ich kann nichts weiter thun, als meinen Mantel aus der Loge nehmen und fortgehen. Als ich in die Nacht hinaustrete, ist es zunächst unmöglich, etwas zu sehen, dann finde ich endlich den Weg. Auf dieser Seite des Gebäudes ist es völlig einsam, ich habe nicht den Ausgang nach der Front gewählt. Der Fluß rauscht an dem Wehr, ich wende mich also nach rechts, das Gebäude zu umgehen; die kleine Luke des Bühnenraumes leuchtet in die Nacht hinaus.

Dann dünkt es mich, als ob hinter mir eine Thür klinke, und ich drehe mich um. Verschwindet da nicht eben etwas Lichtes in der Dunkelheit? Ich bleibe stehen, aber meine Augen können die Finsterniß nicht durchdringen; mir ist’s nur einen Augenblick, als ob durch das Rauschen des Wassers der Schrei einer Menschenstimme gezittert hätte.

„Unsinn!“ sage ich, „du bist erregt.“ Gewaltsam zwinge ich mich zur Ruhe, zum Weitergehen. In den hohen Bäumen über mir rauscht der Nachtwind, das Wasser zur Seite gluckst und kollert so unheimlich – bin ich auf einen falschen Weg gerathen? Es ist ganz einsam hier, und mich packt ein Grauen und eine Ahnung, eine schreckliche Ahnung.

Hinter mir vernehme ich jetzt große rasche Schritte; ein Mensch mit einer Laterne kommt daher gerannt, seinen keuchenden Athem höre ich trotz Wind und Wasser.

„Was ist geschehen?“ schreie ich mit Aufbietung aller Kräfte.

Er ruft mir etwas zu; ich verstehe kein Wort.

Zitternd vor Aufregung komme ich im Gasthof an, ich habe wer weiß wie lange zu dem Wege gebraucht. Der Wirth steht inmitten einer Menge Menschen auf der Hausdiele; als er mich erblickt, kommt er auf mich zu.

„Gnädige Frau brauchen sich nicht zu beunruhigen,“ spricht er, „sie kommt gleich auf den Friedhof in das Leichenhaus.“

Ich gehe weiter – zu fragen brauche ich ja nicht, wer sie ist, die da auf den Friedhof kommt. – – – – – – –

Oll Kathrin hat vor meiner Stubenthür auf mich gewartet; sie schluchzt jammervoll, die Alte. „Madame,“ weint sie, „vergeben Sie ihr doch, sie hat’s so gemußt!“

„Ach, Kathrin,“ sage ich, „hier hat ein anderer zu richten.“

Sie sieht mir in das thränenlose Gesicht und geht schluchzend wieder; sie mag mir wohl anmerken, daß ich nicht sprechen kann. In meinem Zimmer aber sehe ich den Oberpfarrer stehen. Wir drücken uns stumm die Hand, und er kann weinen.

„Ich habe sie sehr lieb gehabt,“ sagt er. „Wäre sie doch zu mir gekommen, hätte sie sich in Elisabeths Arme geworfen – anstatt in den Tod! Wir hätten ihr tausendmal vergeben.“

„Und Elisabeth?“ frage ich.

„Sie ahnt nichts, sie spricht nie von ihr; aber sie hat oft den Wunsch geäußert, Sie wiederzusehen, Frau Anna. Kommen Sie doch morgen früh, Sie finden eine stille freundliche Dulderin, die nichts mehr wünscht auf Erden.“

*  *  *

Die alte Schelle der Pfarrhausthür rasselt wie sonst; ein ältliches Dienstmädchen führt mich in die Stube der Frau Pfarrerin, und von ihrem Fensterplatz erhebt sich eine zierliche kleine Gestalt, und unter schneeweißem Haar leuchten die treuen blauen Augen meiner Elisabeth.

„Das ist lieb von Dir, Anna,“ sagt sie ganz ruhig, „lieb, daß Du kommst. Du bleibst doch ein Weilchen bei mir?“ Sie nimmt mir Hut und Mantel ab und bestellt eine Erfrischung. Wie einst sitze ich ihr auf der Estrade gegenüber und sehe auf die Straße und die alte Kirche. Wir sprechen von unserer Jugend, wir sprechen von ihren drei Lieblingen auf dem Kirchhofe; sie sagt, sie freue sich so darauf, zu sterben, Ruhe und Frieden zu finden, aber von Martha kein Wort! Auch nirgends ein Bild von ihr, kein Andenken!

Wir gehen in den Garten und wandern ein Weilchen stumm im Lindengang auf und ab. Ich meine immer, ich muß hinter den Büschen ein lichtes Kleid, blonde Haare schimmern sehen, oder ein Lachen aus Mädchenmund müsse in die träumerische Stille dieses alten Gartens klingen. – Nichts dergleichen! Fast spukhaft einsam liegt der Garten, nur das Summen unzähliger Bienen hören wir über uns in den blühenden Linden.

Dann fragt mich Elisabeth, ob ich ihr helfen wolle, einen Kranz zu winden. Und sie pflückt an der alten Mauer Epheublätter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 767. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_767.jpg&oldid=- (Version vom 20.6.2023)