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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

und von einem Rosenstrauch, der über und über mit Blüthen bedeckt ist, weiße Rosen, die einen röthlichen Anhauch haben, so zart wie ein junges Mädchengesicht. Und als wir im Garten sitzen und ich ihr die Blätter zureiche, sagt sie plötzlich: „Anna, Du mußt nicht denken, daß ich nichts weiß. – Ich weiß alles, nur will ich nicht mit meinem Mann davon sprechen. Er hat das Kind so lieb gehabt, und darum darf ich auch nicht weinen. Er überwindet’s leichter so.“ Und sie nickt mir freundlich zu, obgleich es um ihre Mundwinkel zuckt. „Willst Du ihr das bringen von mir?“ fragt sie, mir das fertige Gewinde hinhaltend, „es ist ein Gruß aus dem Garten ihrer Jugendzeit.“

Ich will sprechen, aber sie leidet es nicht.

„Laß, Anna; sie ist dem wilden Leben entrückt; es wird ihr vergeben werden, daß sie den Heimweg suchte, ehe es ihr geboten ward. Ich habe ihr alles verziehen.“ Und mit einem Aufathmen setzt sie hinzu: „Es ist wie Ruhe über mich gekommen, seitdem ich weiß, sie schläft.“ Sie legt den Kranz auf den Rasen. „Er soll sich frisch halten, bis Du gehst, Anna.“

„Sie ist auch nicht ohne Abschied gegangen, Anna,“ beginnt Elisabeth wieder. „Vorgestern nacht, als ich vor Herzweh und Angst nicht schlafen konnte, weil ich an dem Tage erfahren hatte, daß sie mit der Truppe hier angekommen ist und hier spielen will, stand ich auf und trat ans Fenster der Schlafstube. Es war ungefähr um Mitternacht und der Mond schien hell durch die Wolken. Zuerst sah ich wie immer nur den alten Birnbaum auf dem Rasenplatz. Es war drückend warm in der Stube und ich öffnete das Fenster. Es war eine Nacht wie ein Traum so schön, aber schwül wie vor Gewitter und Regen, und überall schlugen die Nachtigallen. – Plötzlich erblickte ich am Stamm des Baumes eine Gestalt und allmählich unterschied ich den weißen Arm, der sich um den Baum geschlungen hatte, und das weiße Gesichtchen und die glänzenden Haare darüber. Und ich sah, wie die Augen unverwandt zu mir herüber schauten. Bewegungslos, wie aus Marmor gemeißelt, verharrte sie, und ebenso wie gebannt stand ich an meinem Fenster, und so sahen wir uns an – wie lange, weiß ich nicht. – –

Was ich alles gedacht habe in diesen Minuten, Anna! – Es war mir so wunderbar, als wäre das nicht mehr unser alter Garten, als hätte sich ein Abgrund aufgethan zwischen dem Hause und dem Baum. Ich wollte den Arm heben und konnte es nicht, wollte rufen: ,Komm wieder! komm wieder!‘ aber es schien mir unmöglich, wie hätte sie den Abgrund überwinden sollen? Und als ich so dastand und die Schweißtropfen fühlte, die mir auf der Stirn perlten, und doch nicht fähig war, mich zu rühren, und immer nur die stummen heißen Blicke sah, da löste sich die Gestalt von dem Baum und ging, noch immer den Kopf nach mir gewendet, mitten über den mondbeschienenen Rasen. Ich konnte sie jetzt so deutlich erkennen, wie sie mich erkannt haben mußte, Zug für Zug; und dann verschwand sie in der Richtung nach der Gartenmauer hinter dem Gesträuch. Ich hörte, wie sie – sie hat es als Kind so oft gethan – sich über die niedrige Mauer gleiten ließ, hörte das Rollen kleiner Steinchen und leichte Tritte, die sich entfernten, und jetzt vermochte ich zu rufen: ‚Martha! Martha!‘

Aber es kam keine Antwort! Nur mein Mann wachte erschreckt auf und suchte mich zu beruhigen und wollte mir nicht glauben. Er sagt, es sei eine Sinnestäuschung gewesen; sie meinen ja alle, ich sei krank, aber –“

Sie bricht ab, denn der Oberpfarrer kommt, und wir reden alle drei von dem und jenem, und unsere Herzen sind doch nicht dabei.

Spät abends trage ich den Kranz noch hinaus, aber der Todtengräber läßt mich nicht zu der Entschlafenen. „Ich werd’s besorgen,“ sagt er freundlich, „sehen Sie sie nicht an, Madame, behalten Sie ihr Bild im Gedächtniß, wie es gestern war, – sie sah so lieb aus in dem blauen Kleidchen!“

Indem ich da noch stehe, kommt ein Herr daher – kaum erkenne ich in ihm den Faust von gestern abend. Er sieht so vergrämt aus, so, als ob er über Nacht zwanzig Jahre älter geworden wäre. Ich will mich zum Gehen wenden, da klingt seine Stimme in mein Ohr: „Ach, gnädige Frau, auf ein Wort!“

Natürlich folge ich ihm in die Allee, die den Friedhof ziert; es ist hier tief dämmerig, aber ich kann doch noch das schöne Profil des Mannes erkennen. Er hat den Hut abgenommen und sich das Haar aus der Stirn gestrichen. Offenbar sucht er nach einem passenden Einleitungswort.

„Madame,“ beginnt er endlich heiser, „Sie haben sie ja näher gekannt, und Ihnen darf ich wohl auch sagen, daß ich –“ hier stockt er – „daß ich schuld bin an dem verzweifelten Entschluß. Aber,“ unterbricht er sich, „Sie wissen wohl gar nicht, daß Tosca meine Braut war? Natürlich nicht,“ beantwortet er hastig selbst die Frage. „Sie wollte es Ihnen ja nicht sagen, obgleich ich sie täglich darum bat. Sie liebte mich und schämte sich doch meiner Ihnen gegenüber. Und an diesem unseligen Ort habe ich sie gezwungen, zu spielen, aus Eitelkeit, aus Angst, sie zu verlieren. Ich dachte, sie könnte vielleicht noch im letzten Augenblick wieder in das Pfarrhaus flüchten – dann wäre sie verloren gewesen für mich; anders, wenn sie hier auf den Brettern gestanden hatte! Ich habe sie wählen heißen zwischen mir und dem Fernbleiben von der Bühne gestern abend, ich – ich habe, als ihre Kräfte sie verließen, die halb Ohnmächtige wieder auf die Scene geschleppt, und als sie dort unter der Rohheit des Publikums zusammenbrach – da warf ich ihr, meiner nicht mehr mächtig, den Ring, den sie mir geschenkt hatte, vor die Füße. – Ich weiß nicht, wie das alles kam, vielleicht dachte ich, es würde mein Zorn ihren Stolz wecken oder sie zum Spiel bewegen – ich kann nicht Rechenschaft geben davon, weshalb ich es that. Ich hätte ja längst wissen müssen, daß ihre Füße nicht stehen konnten auf so schwankem Boden; sie paßte nicht zu uns, nicht zu mir. Aber ich wollt’s nicht glauben, ich hatte sie wahnsinnig lieb.“

Ich kann nichts erwidern darauf und gehe still weiter neben ihm. Er bleibt auf einmal stehen. „Und was ist da noch weiter zu sagen,“ klingt es rauh, „sie ist todt – ich kann sie nicht wieder lebendig machen und wenn ich mein eigenes Leben opfern wollte – ich habe sie aus dem Vaterhaus geführt, ich habe sie in den Tod getrieben – ich –“

Sein sonst so schwermüthiges blasses Gesicht hat einen Ausdruck leidenschaftlichen Schmerzes in diesem Augenblick, so daß ich erschrecke. Ich will ein paar Worte des Trostes sprechen und fasse nach seiner Hand, aber er schüttelt die meine ab und mit großen raschen Schritten geht er dem Ausgange des Kirchhofes zu, und ich sehe ihn hinter dem eisernen Gitterthor verschwinden.

Die Todtenfrau kommt mir langsam entgegen und nimmt mir den Kranz ab.

„Er muß wohl ihr Liebster gewesen sein,“ sagt sie, „denn bis jetzt ist er noch nicht viel von ihr gegangen, seitdem sie da liegt. ’S ist ordentlich schauerlich, wie er mit ihr spricht und sie immer wieder um Vergebung bittet, als wäre er schuld an ihrem Tode. Man sieht ja so manches Elend, Madame, aber so hat’s mich noch nicht gepackt!“

Am andern Morgen ganz früh hat man sie zur Ruhe gebettet. Als ich eine Stunde später am Kirchhof meine Extrapost halten lasse, hat die Frühlingssonne die Kränze auf ihrem Grab schon welken gemacht. Ich stehe ein Weilchen vor dem Hügel und gehe dann über den grünen stillen Friedhof meinem Wagen zu; der Postillon knallt mit der Peitsche, die Pferde ziehen an, und als wir an der Friedhofsmauer vorüber sind, bläst er ein Lied, ein lustiges Lied.

Wie das paßt für den thaufunkelnden, sonnendurchleuchteten Frühlingsmorgen!

Im Walde schimmern die grünen Tannenspitzchen wie Smaragd, und die jungen Buchenblätter sind förmlich durchsichtig unter den goldenen Strahlen. Langsam fährt der Wagen bergan. Noch einmal wende ich mich um und sehe das Städtchen drunten, die beiden schlanken Kirchthürme und die dunklen Giebel des Pfarrhauses. Ich weiß, jetzt sitzt am Fenster eine stille Frau, der aller Sonnenglanz genommen ward, und ich meine ihre Worte zu hören, die sie gestern gesprochen: „Es ist wie Ruhe über mich gekommen, seitdem ich weiß, sie schläft.“

Am Wegesrand vor mir sitzt unter einer noch fast kahlen Eiche ein Wanderer; er blickt unverwandt hinab zur Stadt. Ich mache unwillkürlich eine grüßende Bewegung, denn ich habe Marthas Bräutigam erkannt. Aber er wendet den Kopf, er will mich nicht sehen; um seinen Mund zuckt es wieder, und die Hände, die sich jetzt mit dem Reisetäschchen zu schaffen machen, zittern.

Langsam fahre ich vorüber.

Immer mehr versinkt hinter mir die kleine Stadt, und die weite Welt thut sich auf vor meinen Augen. Der Morgenwind zieht mir entgegen auf der Höhe und trocknet die letzten Thränen, als wollte er mich trösten: „Weine nicht, denn sie ist geborgen, sie wandert nicht mehr auf schwankem Boden – sie schläft!“


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verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 768. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_768.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2023)