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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

lieferten, aufs schlimmste, so daß bald niemand mehr bei ihm aushielt. Dabei konnte er doch wieder das Alleinsein nicht ertragen, aber nur der Buchhalter durfte um ihn sein, in jedem andern witterte er einen Spion und Aufpasser. Auch mich duldete er nur selten in seiner Nähe – ‚mein Blick gefiele ihm nicht!‘

In der That fing schon damals, geschürt durch einige junge Sozialisten, deren Bekanntschaft ich gemacht hatte, ein dumpfer Haß gegen solche Blutsauger in mir zu gähren an, und etwas davon mag sich zuweilen in meinen Mienen verrathen haben. Ich war überhaupt in düsterer Stimmung damals. Ich hatte die Familie des Buchhalters liebgewonnen im Lauf der Jahre – ich bedauerte und schätzte den unglücklichen Mann, der wie durch einen Fluch an einen so hassenswürdigen Peiniger gekettet war, ich liebte meinen Freund, liebte auch seine feinen blonden Geschwister, die wie kleine verkleidete Prinzchen und Prinzessinnen in dem finstern Hause umherliefen und oft in mir einen freundlichen Spielkameraden fanden, und ich verehrte aufs innigste die zarte, immer noch schöne Frau, die ohne ein Wort der Klage ihr unheilbares Leiden und den ganzen Jammer ihres haltlosen Lebens trug und mit einer Selbstlosigkeit ohnegleichen für die Ihrigen sorgte und litt. Und ich sah – deutlicher, als ihre Angehörigen es sahen – daß sie hinwelkte und dem Tode nahe kam, während vielleicht – nein, sicher! – sorgsamste Pflege und ein längerer Aufenthalt im Süden dies theure Leben noch auf einige Jahre hätten hinfristen können. Ich hörte von Bankbeamten, von Fabrikdirektoren, von Geschäftsführern, Kassirern und Korrespondenten, die beinahe fürstlich besoldet wurden, – und hier saß ein Mann bei der Arbeit, elf bis zwölf Stunden des Tages, ausgestattet mit einem glänzenden Verstand und riesiger Leistungsfähigkeit – und er verdiente kaum das tägliche Brot für sich und die Seinen, dankte Gott, wenn er seinen Kindern freie Schule auswirken konnte, und mußte sein abgöttisch geliebtes Weib langsam vor seinen Augen hinsterben sehen, weil ihm die Mittel fehlten, ihr die nöthige Pflege zu verschaffen!! –

So war Ostern hingegangen, so das Frühjahr – der Sommer nahte heran … es war um die Zeit der Sonnenwende, wie eben jetzt – und häufige Gewitter gingen nieder. Die Frau des Buchhalters war in dieser Zeit besonders matt, sie konnte sich mit aller Anstrengung kaum auf den Füßen erhalten, und es ging eine so große Veränderung in ihrem Aeußern vor, daß selbst die Kinder es merkten, um wieviel mehr der Gatte und der älteste Sohn! Dazu kam eine entsetzliche Scharlachepidemie, die damals in Hamburg zahllose Opfer hinraffte – und binnen drei Tagen starben zwei der zarten, blonden Kinder – der jüngste Knabe und das älteste Mädchen. Die Eltern und Geschwister waren kaum zu trösten in ihrem Gram, namentlich die arme Mutter war ganz zusammengebrochen und ihren Gatten ergriff eine so große Angst um sie, daß er sich nicht mit dem bisherigen Hausarzt, einem gutmüthigen, unbedeutenden Manne, begnügte, sondern eine wissenschaftliche Größe zu Rathe zog. Die hielt denn mit ihrer Meinung nicht weiter hinterm Berge, nahm den Buchhalter beiseite, sagte ihm klar und deutlich, wie die Dinge standen, stieg in ihren vor der Thür haltenden Wagen und fuhr davon. –

An einem Sonntagnachmittag war’s, und wir beide, Karl und ich, waren gerade auf dem dumpfigen, kleinen Höfchen beschäftigt, einem kleinen Kanarienvogel, der den Kindern gehört hatte und gestorben war, ein Grab zu graben, als plötzlich Karls Vater geisterbleich, mit verstörtem Blick, wie ein Wahnsinniger aus seiner Wohnung an uns vorbeistürzte und, ohne uns zu sehen, durch den niedrigen Thorweg lief, der zur Straße und von dieser aus zum Eingang von Heßbergs Wohnung führte. Diese hatte keine andere Thür sonst, aber dicht an das ‚Privatzimmer‘ des Prinzipals stieß eine kleine, einfenstrige Kammer, in welcher Kohleneimer, Besen, Bürsten und sonstige Dinge aufbewahrt wurden. Ein starkes Drahtgitter vor dem zum Hofe führenden Fenster dieses Raumes war dem Geizhals nicht mehr sicher genug erschienen und es sollte durch ein solches aus mächtigen eisernen Stangen ersetzt werden. Die Arbeiten waren durch den Sonntag unterbrochen worden und das Fenster selbst war der Hitze wegen – es stand ein drohendes Gewitter am Himmel – geöffnet. Karls Blick traf sich mit dem meinen sofort in stummem Einverständniß. In demselben Augenblick, als die Thür zu Heßbergs ‚Privatzimmer‘ mit Ungestüm geöffnet wurde, stiegen wir nach einander geräuschlos durch das nicht hoch gelegene Fenster hinein, drückten uns dicht gegen die Thür und verloren kein Wort von der ganzen Unterredung!“

Auf Schönfelds Stirn standen helle Tropfen – er zog sein Tuch, sie zu trocknen, und athmete ein paarmal zitternd auf. Conventius saß neben ihm, den Kopf in die Hand gestützt, die Blüthen des weißen Rosenstocks nickten über seinem Haupt; er hatte mit lebhafter Aufmerksamkeit zugehört, zuletzt war etwas wie eine unruhige Spannung über ihn gekommen, die er mit Macht von sich abzuschütteln bemüht war. Er mußte mehrmals tief athmen, um die Brust frei zu bekommen, aber ganz nach seinem Wunsch wollte ihm dies nicht gelingen.

„Ermüdet es Sie, Herr Pfarrer?“ fragte der Gefangene.

„Im Gegentheil, es regt mich auf – – und Sie selbst?“

„Mir wird leichter ums Herz werden, wenn ich alles gesagt habe!“

„Gut – so sagen Sie alles!“

„Der Buchhalter sprach in erregtem, lautem Ton, wie ich ihn noch nie hatte reden hören – er muß ganz außer sich gewesen sein. Wir erfuhren nun auch, wodurch ihn der ‚Bluthund‘ in seiner Gewalt hatte, es ging aus den aufgeregten Reden des Mannes nach und nach hervor. Er war mit seinem jungen Weibe und seinem damals vierjährigen Sohn nach Hamburg gekommen, mittellos und verschuldet; wie es dahin gekommen war, was er zuvor getrieben hatte, sagte er nicht. Genug, daß Heßberg seine Lage erfuhr, das Unglück des Mannes ausbeutete und ihn einen Schein unterschreiben ließ, der ihm den Armen vollständig in die Hände lieferte. Natürlich war für das Darlehen, welches Heßberg ihm bewilligte, ein hoher Prozentsatz berechnet, und der Buchhalter hätte eine wirklich große Einnahme haben müssen, um allmählich diese Schuld zu tilgen. Zugleich aber hatte er sich schriftlich verpflichten müssen, in Heßbergs Dienste zu treten von demselben Tage an, da er das Geld zur Bezahlung seiner Schulden erhielt. Diese zweite Verpflichtung wurde sein Verderben, denn sie hinderte ihn, sich eine einträglichere Stellung zu suchen, da er ausdrücklich das Zugeständniß hatte machen müssen, nicht eher seine Stellung als Buchhalter bei Heßberg aufzugeben, als bis er demselben seine Schuld sammt Zinsen auf Heller und Pfennig bezahlt habe. Die Schuldverschreibung und die Dienstverpflichtung banden den unglücklichen Mann an seinen Quälgeist mit doppelter Kette für zeitlebens fest. Es war mir zuerst vollkommen unfaßlich, wie ein Mann mit dieser Geschäftskenntniß in eine solche Falle hatte gehen, sich auf ein derartiges Uebereinkommen überhaupt hatte einlassen können. Aber später mußte ich mir sagen, daß er in Hamburg fremd, hilflos, von Noth gequält, ohne Verbindungen dastand, daß es niemand gegeben hatte, der ihn vor einer Gemeinschaft mit Heßberg warnte, und daß er doch gehofft hatte, allmählich etwas von seinen Verpflichtungen abzuwälzen, weil jene Verschreibung ausdrücklich die Bestimmung enthielt, daß sein Gehalt im Verhältniß zu seinen Leistungen im Lauf der Zeit gesteigert werden sollte. Selbstverständlich wurde es nicht gesteigert, da diese Bestimmung den Ausfertiger des Schriftstücks ja zu nichts verpflichtete, die Leistungen des Schuldners nur mit des Gläubigers Maß gemessen wurden und es lediglich in seinem Belieben lag, das klägliche Gehalt zu erhöhen. Vier Kinder kamen nach und nach hinzu, Krankheit stellte sich ein, die Sorgen mehrten sich, die Einnahme blieb unverändert dieselbe, an allmähliches Abzahlen des Darlehens war nicht zu denken, nicht einmal die Zinsen konnten gedeckt werden, und die eigentliche Schuldsumme, anstatt sich mit den Jahren zu verringern, wuchs und wuchs.

Es ging aus den aufgeregten Reden und Anklagen des unglücklichen Mannes hervor, daß er in der ersten Zeit mehrfach versucht hatte, auf seinen Peiniger einzuwirken, durch Bitten, Vorstellungen, Schilderungen der wahrlich unverschuldeten Nothlage, in die er sammt den Seinigen immer tiefer hineingerieth, Hinweise auf jene versprochene Gehaltszulage … er hätte es ebensogut versuchen können, einen Stein zu erweichen, als diesen Teufel! Er sei ja kein unmündiges Kind gewesen, als er die Scheine unterzeichnet habe, er habe wissen müssen, was er that – das Recht sei durchaus auf seiner, des Gläubigers, Seite, und er selbst zu nichts verpflichtet – er möge es doch versuchen, klagbar zu werden – er, Heßberg, sehe diesem Verfahren mit Seelenruhe entgegen – sowie aber der Schuldner Miene mache, vertragsbrüchig zu werden, eine andere Stelle zu suchen, werde er seine Ansprüche geltend machen und er gedenke ihm doppelt zu beweisen, auf wessen Seite hier das Recht sei! Das waren die Entgegnungen auf alle Bitten des Mannes.

Schließlich verstummte dieser und trug sein unabwendbares Unglück

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_815.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)