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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

war dieser junge Kriegsgott! Und wie schade – wie jammerschade, daß er nicht mehr wiederkam – bis übers Jahr!

Sie ließ die Hände in den Schoß sinken und vergaß ihre Arbeit, ihre Pflicht, das Durcheinander der Stube – kurz alles, was wirklich und greifbar um sie her war! Dann nahm sie die Visitenkarten vor. „Kurt Binder“ las sie halblaut, „Kurt – wie aus einer Geschichte!“

Eine von den Karten konnte sie gewiß aus der Schale stibitzen! Und die Mark! das war ja ein herrliches Andenken!

Sie ergriff den kleinen Lederlappen, den sie zum Blankreiben des silbernen Theekessels mitgenommen hatte, und begann aus Leibeskräften die Mark zu putzen, so eifrig, daß sie den Schritt der Mutter überhörte, die eilig herein kam.

„Aber Liesbeth!“ rief die Hausfrau schon in der Thür, „das ist alles, was Du geleistet hast? Ich denke, Du bist halb fertig! Natürlich!

Liesheth sah beschämt zu Boden.

„Und was machst Du denn jetzt?“ fuhr die Mutter strafend fort.

„Ich putze!“ sagte Liesbeth verlegen.

„Das sind ja Dummheiten!“ rief die Mutter ärgerlich. „Du bist doch wirklich noch zu gar nichts zu gebrauchen! So ein großes Mädchen!“

Liesbeth flog ihrer Mutter ungestüm um den Hals.

„Ach Mama – schilt nicht! ich kann nichts dafür! Denke Dir, der Lieutenant Binder war hier und läßt Euch schon grüßen!“

„Und Du hast ihn hier angenommen?“ frug die Mutter, starr vor Entsetzen, „in diesem Aufzug?“

„Er kam ja unangemeldet herein!“ rief Liesbeth mit so aufgeregter Stimme, daß die Mutter ihre Tochter ganz verwundert ansah, „und ich habe Stubenmädchen gespielt, und er denkt, ich heiße Christel – –“ schloß sie und tanzte wie toll in der Stube herum.

Die Mutter schüttelte bedenklich den Kopf.

„Na, Du scheinst heut die Litteraturstunde mit Nutzen versäumt zu haben,“ sagte sie gedehnt, „nun hilf mir aber hier – jetzt ist’s genug des Unsinns!“

Als dieser bedeutsame Tag zu Ende war und die Wohnung sich wieder in dem Zustand befand, den man von gebildeten Räumen zu erwarten und zu verlangen berechtigt ist, schlich Liesbeth noch einmal in das Zimmer der Brüder, wo Ernst noch mit lauten Verwünschungen gegen das Schicksal und den Klassenlehrer an einem Aufsatz über die Freuden des Winters sich abquälte, während Franz schon schlief.

„Ernst!“ begann das Backfischchen verlegen und zögernd, „ich möchte Dich etwas fragen!“

„Na, dann mach rasch!“ brummte Ernst, „ich habe noch zu ‚ochsen‘!“

Uneingeschüchtert durch die zarte Bezeichnung, die der Tertianer für die Pflege der Wissenschaften wählte, legte ihm Liesbeth die Hand auf die Schulter.

„Ernst, kannst Du Löcher bohren?“ frug sie.

„In was?“ erkundigte sich der Befragte vorsichtig, um sich nicht zu allzu schwierigen Leistungen zu verpflichten.

Liesbeth nahm verlegen ihren Zopf in die Hand und zupfte an der Bandschleife, die ihn zusammenhielt.

„In ein Markstück!“ sagte sie halblaut.

Der Tertianer schob das Heft zur Seite.

„Ja!“ entschied er dann, „ich kann’s! – aber Du mußt mir auch meinen Schluß machen! Du kannst ruhig etwas Schwulst anbringen,“ setzte er hinzu, als ihn die Schwester zweifelhaft ansah, „unser Ordinarius ist so ein Schmachtlappen, der liest solchen Blödsinn gern, wie ihn die Mädchen schreiben!“

Dergestalt ermuthigt, nahm Liesbeth den Platz ihres Bruders am Schreibtisch ein, und während Ernst mit unsäglicher Kraftanstrengung und unter abscheulich quietschendem und knarrendem Geräusch das Markstück durchbohrte, schrieb das Backfischchen mit glühenden Wangen und klopfendem Herzen einen Schluß an den Aufsatz über die Freuden des Winters, der so schwungvoll und empfindungsreich wurde, daß der Lehrer bei späterer Zurückgabe des stilistischen Meisterwerks drohend bemerkte. „Zuletzt hat wohl jemand anders sich Deiner erbarmt, Solten – ich habe bei Dir noch nie ein solches zartes Verständniß für die Schönheit des Winters und den Mondschein auf der kalten Eisfläche entdeckt“ – und Ernst, der sich dabei in einer recht peinlichen Lage befand, sah sich zur Verbergung seiner Verlegenheit genöthigt, in der großen Pause seinen besten Freund durchzuprügeln, der seiner Behauptung nach bei der Rede des Lehrers „gegrinst“ hatte.

Liesbeth aber befestigte glückselig ihr Markstück am Bettelarmband und erwiderte auf die erstaunte Frage ihrer Angehörigen und Freundinnen, was denn dieses sonderbare Anhängsel zu bedeuten habe, mit unerschütterlichem Ernst: „Es ist ein Talisman!“




Zwei Jahre waren seit jenem großen Tage im Soltenschen Hause hingegangen.

Liesbeth war nun wirklich „erwachsen“ – das Ziel ihrer Wünsche erreicht, und sie sah von der sonnigen, frühlingsfrischen Höhe ihrer siebzehn Jahre „hinein in das blühende Land!“

Daß im Lenz auch manchmal ein lustiger Sturmwind und eine übermüthige Laune weht, das gehört dazu – und man müßte schon ein ganz besonderer Griesgram sein, um sich nicht ganz gern von einem solchen schütteln zu lassen.

Das empfand auch der Papa Oberstlieutenant, der für alle Streiche und Tollheiten des Töchterchens im schlimmsten Fall nur ein nachsichtiges „na, na“ hatte, so daß die Mutter oft klagte: „Mit den armen Jungen bist Du immer so streng, und das Mädel kann thun und lassen, was es will!“

Der Vater schmunzelte behaglich.

„Die Jungen machen ihre Dummheiten später ohne väterliche Aufsicht, liebe Anna,“ sagte er, „in einem Alter, wo das arme Mädel schon lange vernünftig geworden ist – das bedenke!“

Und nach der halb wehmüthigen Mahnung des alten Walzertextes

„Des Lebens Mai – zwei drei –
Ist bald vorbei – zwei drei!“

gab sich auch die Mutter zufrieden und ließ den kleinen Uebermuth gewähren.

Augenblicklich war es aber still im Hause bei Soltens, denn Liesbeth hatte sich für einige Wochen auf Besuch zu der Familie des Generals Binder begeben, deren Sohn wir bei Gelegenheit des „großen Reinmachens“ kennenlernten und deren Tochter ja Liesbeths Pensionsfreundin war.

Mit welchem innern Herzklopfen und welcher äußern Gleichgültigkeit die kleine Heuchlerin diese Einladung anhörte – wie nachlässig sie auf die Frage der Mutter: „Nun, hast Du Lust, zu fahren?“ erwiderte: „Wie Du meinst, liebe Mama!“ – das muß man erlebt haben, um es zu glauben.

Die Mutter hatte, eingedenk der erstmaligen Begegnung mit dem Lieutenant, ihre stillen Bedenken und trug dieselben auch dem Vater vor. „Sie war ziemlich aus dem Häuschen, kann ich Dir sagen,“ meinte sie zweifelhaft.

„Ach Unsinn!“ sagte der Vater, „sie hat den Menschen fünf Minuten lang gesehen und dann nie wieder – so sind siebzehnjährige Mädel nicht, daß sie zwei Jahre lang an solcher Geschichte hängen!“

Die Mutter schwieg unüberzeugt.

„Und außerdem,“ schloß der Vater, „steht der Lieutenant in B… und Liesbeth geht nach M…, also wird sie ihn gar nicht sehen!“

Dieser Einwand entschied, und Liesbeth befand sich nun schon seit mehreren Wochen im Schoße der Generalsfamilie und hatte auch dort jung und alt bald ganz für sich erobert.

Die Schulfreundschaft mit Lina Binder war aufs schnellste aufgefrischt worden, die Mädchen vertrugen sich herrlich und genossen die schöne Zeit glückselig miteinander.

Nur das Haupterforderniß der gegenseitigen Vertraulichkeit, das Beichten, wollte nicht recht blühen. Lina hatte zwar schon geheimnisvolle Erlebnisse aus der Tanzstunde und tief erregende Begegnungen auf der Schlittschuhbahn berichtet und Gegenseitigkeit verlangt – aber Liesbeth schüttelte den Kopf.

„Bei uns zu Hause ist kein Mensch, in den man sich verlieben könnte – in der ganzen Stadt nicht!“ versicherte sie mit großer Entschiedenheit, als die Freundin sie eines Abends unmittelbar vor dem Schlafengehen etwas ausfragte.

„Darum bist Du wohl zu uns gekommen?“ lachte Lina.

Aber unerwarteterweise nahm Liesbeth diesen harmlosen Scherz bitter übel, brach in Thränen aus und ging zu Bett, ohne der Freundin zu verzeihen, so daß diese, als am andern Morgen alles wieder gut war, sich die milde Frage erlaubte: „Bei Dir

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 823. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_823.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2023)