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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


geführt habe, sondern eiligst aus dem Zimmer gestürzt sei. Seine Gattin bestätigte, daß ihr Mann bleich und erregt etwa fünfzehn Minuten vor vier Uhr bei ihr eingetreten sei und ihr nur kurz berichtet habe, zwischen ihm und Heßberg sei es zu heftigen Erörterungen gekommen, und er danke nur Gott, daß er sich nicht zu Thätlichkeiten habe hinreißen lassen. –

Diese Aussagen wurden zu Protokoll genommen und der Buchhalter einstweilen in Untersuchungshaft gesetzt, nach kurzer Frist aber wegen mangelnder Beweise wieder freigelassen. Welche Angst mag der unglückliche Mann in seinem Innern wegen jenes Schuldscheins und der Verschreibung ausgestanden haben, von denen er während der Verhöre kein Wort gesagt hatte. Seine Auseinandersetzungen mit Heßberg hatten sich auf dessen gewissenlose Geschäftsführung bezogen, hatte er vor Gericht ausgesagt und in der That hatte er in Hast einige Namen von Persönlichkeiten genannt, die Heßberg gleich ihm zu Grunde gerichtet hatte, und hierauf gründete der Buchhalter seine Aussage. Ihm mußte es wie ein Wunder erscheinen, daß jene Papiere nicht aus dem im übrigen musterhaft geordneten Nachlaß des Verstorbenen zum Vorschein kamen – – aber sie blieben verschwunden, und er hat niemals den wahren Sachverhalt geahnt. Das große Vermögen des Verstorbenen fiel, da ein Testament sich nicht vorfand, an ein paar Seitenverwandte, die sich nicht einmal zur Beerdigung einstellten. Ohne Feierlichkeit und ohne Gefolge wurde Heßberg zu Grabe getragen und kein Auge weinte um ihn, keine theilnehmende Hand legte eine Blume auf seinen Hügel.

Ich blieb noch lange genug in Hamburg, um den Verfall der Familie, die mir wie eine eigene lieb geworden war, mitanzusehen; in einem anständigen Comptoir, das viele junge Leute beschäftigte, fand ich ein Unterkommen, und auch mein ehemaliger Vorgesetzter, der Buchhalter, bekam nach längerem Suchen eine ziemlich gut bezahlte Stelle. Aber es war nun alles zu spät. Der Gram um ihre beiden heimgegangenen Kinder, der Schreck und die Angst, ihren Gatten in Untersuchungshaft und vor dem Richter zu sehen, – das war zuviel für die ohnedies untergrabenen Kräfte der zarten Frau. Sie erlosch wie ein Licht, plötzlich, ganz plötzlich, und um den bedauernswerthen Mann ward es tiefe Nacht – er fiel in eine schwere Gehirnentzündung, wurde bewußtlos nach einem Hospital gebracht und starb dort nach vier oder fünf Tagen, ohne seine Besinnung auch nur für eine Stunde wiedererlangt zu haben. Die beiden jüngeren Kinder wurden mit dem kümmerlichen Rest Geld, der sich in der Hinterlassenschaft vorfand, in billige Pflege zu einfachen Leuten gegeben. Wenn ich mich recht erinnere, ist der Knabe im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren gestorben, das Mädchen später als Frau eines Missionärs nach Afrika gegangen, – – man hat nie wieder etwas von ihr gehört. Mein Freund aber, Karl – mein einziger Jugendfreund – –“ Schönfeld bedeckte seine Augen mit der Hand und seufzte tief auf, „er war wie verwandelt seit jenem Unglückstage, das schöne Jugendfeuer in ihm erloschen, die ungestüme, hinreißende Leidenschaftlichkeit dahin! Aelter, ernster, gereifter um zehn Jahre, ohne Lächeln, ohne Freude, ohne Hoffnung – und, was für mich das Schlimmste war, mir innerlich entfremdet von der Stunde an, die mich zum Mitwisser seines Geheimnisses machte! Sonst kettet dies die Menschen fester aneinander, verbindet sie fürs ganze Leben – hier trat das Gegentheil ein! Er wußte bestimmt, ich würde ihn nie verrathen, er vertraute mir vollkommen, und das eine ‚Nein‘, das ich damals gesprochen hatte, wog in seinen wie in meinen eigenen Augen so schwer wie der feierlichste Eid. Aber mein Anblick quälte ihn, rief ihm unausgesetzt den Augenblick zurück, da wir beide uns über die Leiche beugten und der betäubende Donnerschlag über unsern Häuptern losbrach; er bemühte sich, mich sein Empfinden nicht merken zu lassen, mir gegenüber ganz der Alte zu sein – aber es half ihm alles nichts, ich kannte ihn zu gut. Ein einziges Ziel nur hatte er sich gesteckt, ein Ideal schwebte ihm vor: ein berühmter Künstler zu werden! Als ihm Mutter und Vater gestorben war und er seine Geschwister, so gut es eben anging, versorgt wußte, kam er, um Abschied von mir zu nehmen, da er nach München ging – mit seinem vornehmen, blassen Gesicht und den düster flammenden Augen seinem Vater ähnlicher denn je. Der Abschied von mir schmerzte ihn nicht, ich merkte es ihm an, ihn trieb es fort, fort wie mit Sturmesgewalt, er konnte Hamburg nicht rasch genug hinter sich lassen. Ich aber – ich habe nie wieder in meinem Leben einen Freund geliebt, – wie ich ihn geliebt hatte.

Ich bin dann noch eine Zeitlang in Hamburg geblieben, bin immer mehr in die Umtriebe der Anarchisten verstrickt worden – das Leben warf mich herum, hierhin, dorthin, – gefeiert, verwöhnt von meinen Anhängern … gehetzt, verfolgt von dem, was man bestehendes Recht und Gesetz nennt, – ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft, nur mit den ‚Parteigenossen‘ verkehrend, nur der ‚Partei‘ lebend. Ich bin dann gesunken, von Stufe zu Stufe …

Er aber, den ich nie vergaß, den ich im Auge zu behalten wünschte, wo ich auch war, was ich auch trieb, wenn er selbst auch nichts mehr von mir wissen, nie mehr an mich denken sollte – er hat es mir nicht schwer gemacht, seine Laufbahn zu verfolgen. Er ist gestiegen, überraschend schnell, hoch und stetig, sein Name glänzt, wie er es gewollt hatte, als einer der ersten Sterne am Himmel der Kunst, und wie er sich auch zurückzieht und vor der Welt flieht, – sie läßt ihn nicht los, bemächtigt sich seiner und trägt ihm ihre Bewunderung, ihren goldenen Lohn und ihren Lorbeer nach. Wenn er selbst auch schweigt … seine Werke reden für ihn, und eine mächtige Sprache ist es, die sie führen! Ich habe oft und viel über ihn gelesen – man nennt ihn unzugänglich, menschenscheu und düster, und seine Bilder athmen die tiefste Schwermuth. Wem ein so unheilbares Gift in den Becher der Jugendlust gemischt wurde – wie soll der in seiner Kunst von Lebensfreuden erzählen können? –

Wir sind nie in ein und derselben Stadt gewesen – er war viel auf Reisen und fast nie in Europa – bis – bis – auf diese letzte Zeit! Man hat ihn hierher nach F. berufen und zum Professor an der Akademie gemacht, und er ahnt es nicht, daß ich ihm so nahe bin – und doch so unerreichbar weit! Er soll es auch nicht ahnen – mit keinem Wort möchte ich seinen Weg kreuzen – ich wollte, er hätte mich vergessen! Ich habe seiner gedacht zu tausend Malen, vielleicht, weil sein Name unauflöslich verbunden ist mit einer der wenigen wahrhaft guten Thaten meines Lebens! Denn eine gute That ist es gewesen, daß ich damals schwieg, und ich freue mich ihrer!

Vor einiger Zeit hat mir der Herr Direktor, durch Ihre Güte, Herr Pfarrer, dazu veranlaßt, Zeitungen zu lesen geschickt, – nicht den politischen Theil, nur die Feuilletons und die allgemeinen Nachrichten und wissenschaftlichen Besprechungen. Darin fand ich denn auch eine ausführliche Besprechung der letzten Gemäldeausstellung, und ein Bild war’s vor allem, das die Kritik zu einem wahren Sturm von Entzücken und Begeisterung hinriß: ‚Der Engel des Herrn‘! Von ihm! Er hat meist landschaftliche Motive gemalt, zuweilen auch Bildnisse, die meisterhaft sein sollen – jetzt wagt er sich auch an diese mystisch religiösen Darstellungen, und sie glücken ihm. Was glückte ihm nicht in seiner Kunst? Er ist ein großes Genie, ich hab’ es immer gewußt. Ich hätte gern dieses Bild gesehen ‚Der Engel des Herrn‘! – Von mir wird er nichts wissen – wie viele Künstler lesen die Gerichtsverhandlungen? Zudem habe ich verschiedene Namen geführt – wer sagt ihm, welches der rechte sei? Was haben sie miteinander zu schaffen – der zum Tode verurtheilte Verbrecher und der weltberühmte Maler, Professor Delmont? Da! Nun habe ich Ihnen dennoch den Namen genannt – Sie haben ihn ohnehin bei Nennung des Bildes errathen – auch thut es nichts! In drei Tagen habe ich zu sterben – – es ist Sonnenwende!!“

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Es blieb eine Weile still auf Nummer achtundfünfzig. Der zum Tode Verurtheilte starrte mit einem ganz eigenen Ausdruck zu dem vergitterten Fenster empor, durch dessen Eisenstäbe ein Stückchen des rosig überhauchten Abendhimmels hereinsah. Die Sonne war himunter, aber die Goldglorie, die sie hinter sich gelassen hatte, schwebte noch über der blassen Himmelsbläue. Und der bleiche, schlanke Mann sah hinauf – hinauf und dachte, daß er nur dreimal noch den Sonnenball an seinem Fenster würde vorüberwandern sehen – und dann sollte es für immer zu Ende sein, das Leben, das ihm so wenige Rosen und so viele scharfe Dornen gebracht hatte! Seine Seele! Würde sie hinaufschweben zu den lichten Höhen, von denen jetzt das Sonnengold wie flüssig gewordenes Feuer niederrann – und würde der allerbarmende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 838. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_838.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)