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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Und vor Henris Seele stieg jener furchtbare Tag auf, als Jann, sein einziger, bereits zum kräftigen Jungen herangewachsener Sohn, auf und davon ging. Er war ein wilder, unbändiger Bursche gewesen und der Vater hatte Mühe genug gehabt, ihn in Zucht zu halten; oft hatte das Tauende seine schmerzhafte Sprache zu dem kleinen Thunichtgut geredet. Je strenger indessen Henri gegen den Knaben gewesen war, desto mehr hatte ihn die Mutter verwöhnt.

Aber einmal war’s doch auch ihr zu toll gewesen, und sie sah wohl ein, daß er Strafe haben mußte, brachte es aber nichts fertig, ihn selbst zu züchtigen. So hatte sie ihm gedroht: „Warte nur, ich sag’s dem Vater!“

Das mochte auf Jann einen gewaltigen Eindruck gemacht haben, denn wenn sich die allzeit nachsichtige und gütige Mutter sogar bewogen fühlte, ihn bei dem Vater, dessen Strenge sie für ihn fürchtete, zu verklagen, so konnte er sich auf gehörige Strafe gefaßt machen. Die Furcht davor trieb ihn in die weite Welt, und die Eltern blieben mit ihrem Kummer allein zurück.

Doch ten Eißen unterbrach die trüben Erinnerungen, die an seinem inneren Auge vorüberzogen; er durfte Kathi, heute gerade nicht allein lassen, und so schritt er denn schwerfällig zu der rothen Ziegelhütte zurück, welche sich, von einem kleinen Gärtchen umgeben, dicht hinter den Dünen erhob. – Einst hatten in diesem Gärtchen während des Sommers rothe Nelken, duftende Rosen und schwarzgetüpfelte Feuerlilien geblüht. Die Fremden waren stehen geblieben und hatten sich der Blumenpracht gefreut. Aber nicht dieser allein galt ihr Verweilen, es galt noch mehr dem blondlockigen Knaben, der zwischen den Beeten spielte.

„Wie heißt Du, mein Söhnchen?“

„Ei, so sag’s doch! Wer wird so blöde sein!“ hatte Kathi dem Kleinen zugeraunt.

„Jann ten Eißen.“

„So ist’s recht! Nun gieb ein schön’ Patschchen,“ ermuthigte die muntere Fischersfrau ihren Liebling weiter, der sich endlich auch bewegen ließ, sein sandfeuchtes Händchen den Gästen entgegenzustrecken; selten zog er es ohne eine kleine Gabe zurück.

Und auch später hatte sich jeder über den strammen heranwachsenden Jungen gefreut, der da schon so flott seine Netze strickte oder das kleine Gärtchen in Ordnung hielt. – –

Das war nun vorbei: die Nelken verdorrt, die Rosen verwildert, die feurigen Lilien vom Strandhafer überwuchert – – und der blondlockige Jann ten Eißen spurlos verschwunden!

Henri öfnete mit Mühe die Thür, die der Sturm mit Gewalt in die Fugen drückte. Kathi kauerte mehr, als daß sie saß, in der Nähe des Ofens und sah geistesabwesend in die züngelnden Flammen. Das that sie oft; der hastigen, aufgeregten Arbeit folgte eine Abgespanntheit, welche ihren Mann noch besorgter machte. Dann hörte und sah sie nichts, mochte Henri sie ansprechen oder durch freundliche Liebkosungen zu ermuntern suchen.

Auch jetzt streichelte er ihr Haar und Wangen. Wunderbar, wie seine riesigen, groben Hände zart mit der Aermsten umzugehen wußten. Grenzenlose Liebe, Mitleid und tiefer Seelenschmerz lagen in jeder seiner Bewegungen.

Plötzlich fuhr die Frau empor, als wenn sie aus langem Schlummer jäh erwacht wäre, stürzte an den Tisch und formte aus dem Teige die Weihnachtsbrötchen.

„Für Dich – für mich – und die beiden für unsern Jann,“ sagte sie mit einem zärtlichen Lächeln, welches so schlecht zu dem starren Ausdruck ihrer Augen paßte. – Was lag nur darin? Wie ein Schleier breitete es sich über die dunklen Pupillen, die stets so furchtbar ernst in das Leere schauten.

„Bist Du mir böse, Henri? Unser Jann kommt heute! Schlage ihn nicht mehr! – Nicht wahr? – der böse, liebe Junge – so lange auszubleiben! – Ach du lieber Gott!“

Kathi nahm noch eine Hand voll Rosinen, wusch sie vorsorglich im frischen Wasser, drückte sie still lächelnd in die Wecken und legte auf die für Jann bestimmtenen zierlich die Buchstaben „J. t. E.“

Ten Eißen brach fast das Herz bei dem halb irrsinnigen Treiben seines Weibes. Er hoffte nicht mehr auf des Sohnes Wiederkehr. Jann war umgekommen, gestorben und verdorben, sonst hätte er in der langen Zeit doch irgend ein Lebenszeichen von sich gegeben!

Kathi griff nun zu ihrem schwarzen, wollenen Mantel, hüllte sich fest darin ein, schlang ein Tuch um den Kopf, nahm einen starken Tragkorb auf den Rücken und bald darauf watete sie, der Unbilden des Wetters nicht achtend, durch den tiefen Sand dem belebteren Theile des Dorfes zu.

Hier waren die Straßen mit rothen Ziegelsteinen gepflastert, und nun schritt sie tapfer aus, so daß sie bald den Marktplatz erreichte.

Ein grüner Wald war hier auf der sandigen, baumlosen Insel über Nacht erstanden. Die Finkenwerder Schiffe und der Dampfer, welcher von Norden kommt, hatten Tannenbäume in Hülle und Fülle herübergebracht.

„Ach wie schön! Wie schön!“ rief Kathi ten Eißen. „He, Tschade Severins, gieb mir einen recht, recht schönen – mein Jann muß den größten haben, den allergrößten! Du weißt doch, daß er heute kommt?“

Der alte Fischer sah das junge Weib schmerzlich an und gab ihr eine prächtige, schlankgewachsene Tanne.

„Danke, danke – wird der sich freuen!“ Damit ging sie weiter, kaufte hier blaues Zeug zu einem Anzuge, dort Aepfel, Nüsse, Lichter und echten friesischen Knüppelkuchen.

„Nun ist’s genug,“ sagte sie, packte alles in ihren Tragkorb, nahm ihn auf den Rücken, umfaßte den Christbaum mit ihren beiden kräftigen Händen und kämpfte sich wieder durch Sand, Nordost und Schneehuschen zu der Hütte hinter der Düne zurück.

„Die arme Kathi! Die hat’s zu sehr gepackt. Was war das für ein schmuckes Weibchen! Und eine tüchtige Hausfrau!“

„Gerade daß sie dem Jungen mit dem Alten gedroht hat, ist ihr ins Gehirn gefahren.“

„Und ten Eißen ist der Alte auch nicht mehr, an dem nagt der Wurm, daß er so streng mit ihm war.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 845. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_845.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2023)