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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Wer war bei ihm?“ fragte der Arzt erregt.

„Der Bauer selber. Ach! was mag der mit ihm angestellt haben, er war den ganzen Tag so verstört, so … ich weiß nicht, wie ich’s nennen soll!“

„Wir müssen ihn suchen, Eva!“ entschied kurz der Arzt.

Da erschien unter der Thür lautlos eine unheimliche Gestalt, lang und hager, mit wirrem Haar und langem, grauem, struppigem Bart. Eva fuhr zusammen, sie erkannte den alten Gemeindehirten, vor dem sich alle Kinder und Frauen fürchteten, weil er aussah wie ein Zauberer und von ihm das Gerücht ging, daß er mit Mächten in Verbindung stehe, die mit Blut unterschriebene Pakte forderten.

„Was wollt Ihr hier, Hoppe?“ fragte Eva, „schickt Euch der Bauer her mit einer Botschaft?“

„Nein,“ sagte der Alte mit seiner tonlosen Stimme und doch voll Eifer, „aber ich hab’ ihn gesehen, den Otterhofbauer mit dem kleinen Buben. Der braucht jetzt keinen Doktor mehr, der Kleine, Sie können schon ruhig nach Hause fahren, Herr Doktor.“

Eva preßte erbleichend die Hand auf ihr Herz, das vor Schreck stillstehen wollte, und der Doktor fragte hastig:

„Ist das Kind gestorben?“

„Das nicht, und es wird auch nicht sterben; der Schwarze reitet’s, Ihr werdet’s sehen! In den Moorheidehof trägt der Bauer das Kind. Er hätt’ es schon längst hintragen sollen; er hat sich zeitlebens wenig um den Herrgott gekümmert, der Otterhofbauer, da wird sich der Herrgott auch nicht um ihn kümmern, da hilft ihm am ersten noch der mit dem Pferdehuf.“

„Ist er rasend?“ rief der Arzt, indem er zur Thür stürzte, „in die Abendluft, in den Sturm und die Feuchtigkeit hinaus trägt der hirnverbrannte Mensch das scharlachkranke Kind?“

„Und warum gerade in den Moorheidehof?“ fragte Eva bebend, die sich plötzlich des Glaubens erinnerte, daß jede Krankheit weichen müsse, wenn die Hand eines Mörders sich dem Kranken aufs Herz lege. Sie ahnte den Zusammenhang zwischen diesem abergläubischen Wahne und der verzweifelten Handlung des Otterhofbauern.

„Weil da einer ist, der helfen kann!“ flüsterte der Gemeindehirte. „Es sagt’s keiner, aber es weiß es jeder, daß der Rupert helfen kann, wenn er will. So vielen Kranken kann einer das Leben retten, als er Mordthaten begangen hat – freilich, es muß ihm einer helfen, den man lieber nicht beim Namen nennt.“

„Rupert ist kein Mörder!“ schrie Eva auf. „Du grundgütiger Herrgott! Was sind die Menschen so schlecht!“

Auch sie stürzte hinaus und kam noch ans Hofthor, ehe der Arzt davonfuhr.

„Nehmen Sie mich mit auf den Moorheidehof!“ rief sie athemlos.

„Was willst Du dort?“ entgegnete der Arzt.

Sie wußte es selber nicht und stieg doch eiligst in das Korbwägelchen. Sie hatte das dumpfe Gefühl, daß sie dabei sein müsse, wenn Rupert des Mordes beschuldigt wurde, sie wollte es mit ansehen, wie er den Verleumder von sich stieß. Sie wollte zu ihm halten vor Jakobs Augen.

„Ich hoffe, wir holen ihn unterwegs ein,“ sagte der Arzt, „es ist am Ende ganz gut, daß Du mitkommst und ihm zureden hilfst. Er scheint nahe daran zu sein, den Verstand zu verlieren.“

Der Moorheidler und Rupert saßen indessen, von der Tagesarbeit ausruhend, auf der Ofenbank, beide zufrieden ihre Pfeifen rauchend; Gertrud bereitete in dem unteren Theile des großen Kachelofens, der bis in den Mai hinein geheizt werden mußte, die Pfannkuchen für das Abendessen; auf einem Schemel saß die Magd und spann. Der Tisch war schon mit sauberen Linnen und blanken Zinnschüsseln gedeckt und die darüber hängende Lampe verbreitete ihr schwaches Licht in dem großen, niedrigen Raume. Draußen pfiff der Sturm über die Moorheide und wie der schwere Flügelschlag eines riesigen Vogels klang sein Brausen um das freistehende Haus.

„Böses Wetter, böses Wetter!“ sagte kopfschüttelnd der Moorheidler. „Und ’s kommt noch schlimmer. Droben im Gebirge wird’s böse Schneewehen geben. Dein Vater muß zu uns herunterkommen, Weib, eh’ der Schnee schmilzt. Seine Hütte steht zu dicht an den Matten des Hochachtners, und so beim Frühlingsanfang ist der Hochachtner ein böser Berg!“

„Hast Du die Laterne an der Nothbrücke angezündet, Rupert?“ fragte Gertrud. „Wenn bei dem Wetter einer ins Moor geräth, hört man ihn nicht rufen.“

„Die Laterne brennt,“ erwiderte Rupert, „aber wer wird wohl noch herkommen?“

„Ist auch das Hofthor fest zu?“ fragte der Moorheidler. „Ich glaube, ich hör’ es knarren.“

„Verriegelt ist es nicht, aber fest im Schloß,“ gab Rupert zur Antwort.

„Horch, knarrt es nicht?“ sagte der Moorheidler aufstehend.

„Der Sturm rüttelt daran,“ meinte Rupert. Aber draußen rasselte die Kette des aus seiner Hütte stürzenden Hofhundes und dann vernahm man ein kurzes, scharfes Bellen, dem wieder das Rasseln der Kette folgte; der Hund war zurückgekrochen, denn in der kräftigen, in einen Mantel gehüllten Mannesgestalt, die durch das mit gewaltigem Ruck aufgeworfene Hofthor kam, hatte er einen langjährigen Bekannten entdeckt und sich beruhigt.

„Wer ist da?“ rief der Moorheidler aus dem Fenster.

Aber schon in der nächsten Sekunde ward die Thür aufgerissen und der Otterhofbauer stand in der Stube. Mit einem unterdrückten Schrei sprang die Magd von ihrem Schemel auf, während die andern den bleichen, unheimlich verwildert aussehenden Mann mit erschreckten Blicken anstarrten.

„Guten Abend, Schwager!“ sagte schüchtern der Moorheidler, „ich bitte Dich, setz’ Dich. Wie geht’s Deinem Jungen? Und was für einen großen Packen hast Du unter Deinem Mantel? Leg’ ihn doch ab, Schwager!“

Der Otterhofbauer schlug stumm den Mantel zurück – es war der kleine Magnus, den er trug. Kaum athmend, mit festgeschlossenen Augen, schwarzblauen, von Fieberhitze verbrannten Lippen und todtenstarren Zügen lag das Kind in seinem Arm. Entsetzen erfaßte die Anwesenden bei diesem Anblick, sie glaubten alle, das Kind sei gestorben und Jakob irrsinnig geworden.

„Barmherziger Herrgott!“ rief der Moorheidler, die Hände zusammenschlagend. „Bist Du auch ganz bei Dir, Schwager? Wozu bringst Du das Kind hierher?“

„Lebt es noch?“ fragte Rupert und trat näher, um Magnus zu betrachten.

Mit verzehrendem Blick bohrten sich Jakobs hohlliegende Augen in Ruperts Züge, mit brennend heißer Hand ergriff er dessen Handgelenk.

„Es lebt noch!“ preßte er hervor, „Du kannst’s noch retten! Rett’ es mir, Rupert!“

„Ich?“ sagte Rupert und blickte den Bauer mit großen Augen an. „Für wen haltet Ihr mich? Ich bin kein Doktor und keiner, der Krankheiten besprechen kann.“

„Ich will’s nicht sagen, wofür ich Dich halte,“ sagte Jakob, der Ruperts Hand mit eisernem Griffe festhielt, „will’s jetzt nicht sagen und auch in Zukunft nicht, niemals, niemals! Und wenn ich’s jemand sagen höre, so will ich dem einen Denkzettel geben, daß er’s niemals wiedersagt! Nur rett’ mir den Buben!“

„Ich verstehe Euch nicht!“ sagte Rupert, „Ihr seid von Sinnen.“

„Leg’ Deine Hand auf des Kindes Herz, Rupert, so rettest Du es mir, und ich dank’ es Dir ewig, ewig!“ rief Jakob in jammervoll flehendem Tone, der bei dem hochmüthigen, kaltblütigen Mann erschütternd wirkte, weil er so offenbar aus gefoltertem Herzen kam; „weiter nichts, nur Deine Hand leg’ ihm aufs Herz!“

Der Moorheidler und Gertrud zuckten zusammen, Rupert prallte zurück und ein düsteres Feuer blitzte in seinen schwarzen Augen auf; urplötzlich begriff er, was Jakob meinte. Mit einem Ruck entriß er ihm seine Hand und wies auf die Thür.

„Hinaus!“ sagte er mit heiserer Stimme und gewaltsamer Fassung, „fort! Mehr weiß ich Euch nicht zu sagen.“

„Geh’, geh’, Schwager!“ bat der Moorheidler sanft. „Wir würden Dir von Herzen gern helfen, wenn wir könnten, aber daß Du glaubst, der Rupert hätt’ einem das Leben genommen, das ist schlecht von Dir, Schwager!“

Die Röthe der tiefsten Entrüstung schoß dabei dem Moorheidler in das runzelige Gesicht.

„Nichts glaub’ ich, nichts, gar nichts!“ stieß Jakob in wachsender Aufregung hervor; „ich weiß, daß der Rupert ein tüchtiger, fleißiger Mensch ist, und das Amt hat ihn ja auch freigesprochen. Aber es ist ja auch nicht viel, was ich verlange …

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verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 862. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_862.jpg&oldid=- (Version vom 9.2.2023)