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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Rupert sah sie mit einem Blicke voll stummer Verzweiflung an und ließ ihre Hand fahren. Sie ging in die Kammer.

Der Arzt hatte mittlerweile auch begriffen, wie all diese Reden zu deuten waren, und rannte, zornig und halblaut die „verbohrten Bauernschädel“ verwünschend, im Zimmer hin und her.

„Ich muß jetzt auch fort,“ sagte er endlich, nachdem lange ein drückendes Schweigen im Zimmer geherrscht hatte; „Rupert, gieb Dich zufrieden, Deine Eltern werden nur allzu bald ihre Thorheit einsehen müssen. Das Kind ist ja so schwer krank! Freilich, so lange Leben vorhanden ist, ist auch Hoffnung, es zu erhalten. Aber ich glaube, daß es sterben wird.“

Rupert stand regungslos auf dem Flecke, wo ihn Gertrud verlassen hatte.

„Ja!“ murmelte er zwischen den Zähnen, kaum hörbar, mit krampfhaft geballten Fäusten; „es wird sicher sterben!“

Der Arzt ging. Ueber die öde, weite Moorheide aber pfiff der Sturm und fuhr mit klagenden Tönen in die schwarzen, baufälligen Schornsteine des Moorheidehofes; die Balken der Nothbrücke ächzten, die Laterne daran schaukelte wie ein Irrlicht hin und her und erzeugte seltsame, huschende Schatten, die dem nächtlichen Wanderer den Eintritt in das verfehmte Gehöft wehren zu wollen schienen.

Und wenn Mordgedanken und Mordpläne den, der sie hegt, auch wenn sie noch unausgeführt sind, zum Mörder machen, so war der Moorheidehof jetzt in der That die Wohnstätte eines Mörders.




Es mochten ungefähr acht Tage seit jenem Abend verflossen sein, als der Arzt mit einem seiner Freunde – mit mir selbst, um es kurz zu sagen, denn ich kann meine Person jetzt nicht mehr gut aus dieser Erzählung weglassen – am späten Abend auf der aus den tieferliegenden Ortschaften des Gebirgsthales heraufführenden Landstraße nach Hause fuhr. Es war ein bösartig aussehendes Wetter im Anzuge, drohende gelbe Wolken standen am Himmel, und wir fragten uns, ob wir wohl Dockenförth noch würden erreichen können, da eben erst die Häuser von Wieselbach vor uns lagen. Wir hatten lange Zeit nicht auf das Wetter geachtet, denn wir waren zu vertieft gewesen in unser Gespräch über die traurige Lage des dem Aberglauben zum Opfer gefallenen Rupert. Durch eine wunderbare und verhängnißvolle Fügung hatte sich der kleine Magnus erholt, und zwar war die Besserung noch in derselben Nacht eingetreten, da Ruperts Hand auf seinem Herzen gelegen hatte. Der Arzt, obwohl selbst durch diese Wendung sehr überrascht, schrieb dieselbe einestheils der ungewöhnlich zähen Kraft des kleinen Jungen zu, der auch seinen einstmaligen Sturz in den Ententeich ohne jegliche schlimme Folge überwunden hatte, anderntheils aber dem Umstande, daß der aller seiner Sorgen überhobene Otterhofbauer jetzt erst imstande gewesen war, alle ärztlichen Vorschriften mit kühler Ruhe und gleichmüthiger Pünktlichkeit zu befolgen. Freilich fehlte dafür jetzt Evas bisher unermüdliche Pflege; das Mädchen saß stundenlang ganz allein in ihrem Giebelstübchen, sah blaß und krank aus und sprach kaum ein Wort. Um das Hauswesen kümmerte sie sich nicht mehr. „Habt nur Geduld, es wird ja schon wieder anders werden!“ pflegte sie der Bäuerin zu antworten, wenn diese sie ermahnte, sich aus ihrem Hinbrüten aufzuraffen; „aber laßt mir Zeit, es zu verwinden.“

Die Bäuerin wußte, was sie meinte, und ließ sie gewähren.

„Gut ist’s nur, daß sie ihn nicht geheirathet hat!“ sagte sie zu den Nachbarn. „Sie hätt’ es gethan, jede Stunde, der Rupert hätt’ nur zu kommen brauchen und um sie anzuhalten; aber er ist nicht gekommen. Das wäre jetzt ein schönes Elend!“

Wenn Eva irgend eine Hilfeleistung für Magnus zu verrichten aufgefordert wurde, so that sie es lässig wie jemand, der weiß, daß er etwas Unnützes thut; sie wußte ja, daß der Kleine auch ohne Medizin gesund werden würde! Nur die Nachtwachen übernahm sie gern; sie schlafe ja doch nicht, sagte sie.

Dieselben Spuren tiefen Seelenleidens wie Eva zeigten auch der Moorheidler und Gertrud. Der Moorheidler sah gebrochen und gealtert aus wie an jenem Abend, da Rupert den Leiterwagen des Gendarmen bestiegen hatte; Schmerz und Scham hatten tiefe Furchen in seine Stirn gegraben, und in seiner äußern Erscheinung war er vernachlässigt; er kämmte sein spärliches graues Haar nicht mehr. Bei Tage verhielt er sich still und wortlos, bei Nacht aber stöhnte und seufzte er unaufhörlich. Er klagte nie mit Worten, machte seinem Sohne keinen einzigen Vorwurf und begegnete ihm freundlich und sanft; überzeugt, daß Rupert seinen Bruder unabsichtlich getödtet habe, wollte er ihm das Haus nicht zur Hölle machen – aber er that es doch, ohne es zu wollen! Gertrud ertrug alles in derselben Weise wie ihr Mann; auch sie machte Rupert keine Vorwürfe; aber je entschiedener drüben auf dem Otterhofe die Besserung fortschritt, desto mehr wich sie ihm aus.

Rupert selbst hatte es nur noch ein einziges Mal versucht, seine Eltern mit vielen Bitten und Betheuerungen von seiner Unschuld zu überzeugen. Dann, als dies, angesichts der Besserung in Magnus’ Zustand, erfolglos geblieben, war er mit einem Schlage ein anderer Mensch geworden. Finster, verstört, mit grübelndem, verbissenem Ausdruck, unstätem Blick und ruhelosem Wesen ging er umher. Beständig umschlich er den Otterhof, auf Nachrichten über Magnus lauernd. – Dieselben lauteten nur verhältnißmäßig günstig, das Kind war noch immer sehr schwer krank. Aber todt war es nicht!

So oft der Jakob ihn sah, rief er ihn herein, drückte ihm vor allen Leuten die Hand und that sein Möglichstes, um seine Dankbarkeit an den Tag zu legen. Allerdings war nie mehr davon die Rede, daß er Eva heirathen solle; dazu verabscheute Jakob doch im stillen zu sehr den Mörder seines Neffen, und in tiefster Seele graute ihm vor der Macht der Hölle, die Rupert so augenscheinlich zur Verfügung stand. Beständig versuchte er aber, ihm Geld und werthvolle Geschenke aufzudrängen; er wollte ihn bezahlen für seinen unheimlichen Dienst, wollte sich das Leben seines Lieblings von einem Verbrecher nicht schenken lassen. Aber rauh und finster wies Rupert alles zurück.

Das alles hatten wir auf unserer Fahrt besprochen und bemerkten daher erst spät das herannahende Unwetter. Wir kannten zur Genüge die Gewalt dieser Frühlingsgewitter, und so meinte der Arzt:

„Wir wollen nur bis zum Otterhofe fahren und dort den Sturm abwarten oder da übernachten. Aber in den Otterhof müssen wir noch, denn ich muß mir den Kleinen noch vor der Nacht ansehen; bei aller Achtung vor Teufelskünsten und Mörderhänden will ich mich doch lieber nur auf mich selbst verlassen!“

Er trieb sein Pferd an, und nach zehn Minuten hielt das Wägelchen vor dem geschlossenen Thore des stattlichen Gehöftes; die bellenden Hofhunde verkündeten unsere Ankunft, die Knechte kamen mit Windlaternen, Pferd und Wagen wurden geborgen und der Bauer trat auf die Schwelle des Hauses, um uns willkommen zu heißen. Er war wieder ganz der Alte in seinem Aussehen; Sorgen und Jammer hatten keine Spuren in den scharf ausgeprägten, entschlossenen Zügen zurückgelassen, und auch in seinem Wesen hatte er vollständig die ehemalige überlegene Ruhe wiedergewonnen. Er bat uns, über Nacht bei ihm zu bleiben, und ließ schleunigst das schönste Zimmer des Hauses für uns zurechtmachen. Der Arzt begab sich in die an das geheizte Wohnzimmer anstoßende Kammer, in welcher der kleine Magnus lag.

„Er schläft noch nicht,“ sagte der Bauer. „Er ist unruhig heut’ abend. Aber ganz bei sich ist er und erkennt jeden. Nicht wahr, Magnus, Du kennst den Herrn Doktor?“

„Herr Doktor, mein Hampelmann ist krank!“ sagte schnell der lebhafte, kleine Junge, sich in seinen Kissen aufrichtend. Laut lachte der Bauer und sah uns an, als wollte er fragen, warum wir nicht ebenfalls lachten.

„So?“ sagte der Doktor, Magnus’ Puls fühlend, „hast Du wieder zu stark an seinem Lebensfaden gezupft? Ist er zerrissen?“

„Nein, sein Kopf ist ab,“ sagte Magnus eifrig; „aber tanzen kann er darum doch noch!“

Der Arzt lächelte zerstreut und sagte, dann brauche er wohl nur Leim zu verschreiben; aber Magnus’ Puls gefiel ihm nicht, und er forderte die Arznei, um sie ihm einzugeben.

„Die Arzneiflasche ist heute mittag in die Apotheke nach Dockenförth geschickt worden,“ sagte die Bäuerin; „der Rupert kam vorbei, dem hab’ ich sie mitgegeben und der wollte sie auch wieder zurückbringen. Aber bei dem Wetter wird er sich kaum, auf den Weg machen, er wird wohl abwarten, bis sich’s ausgetobt hat.“

„Das trifft sich schlecht!“ meinte der Arzt. „Es muß unbedingt

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verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 886. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_886.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)