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verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

vielen Krankheiten, lehrt ein Jägerianer von 1807 in der „Allgemeinen Modenzeitung“. Wolle und Baumwolle seien zwar gut für die Alten, aber die Jungen würden nur dadurch geschwächt, diese müßten ihre lebhaft thätige Haut vor zu starker Verhüllung bewahren. Die Ehemänner freilich waren oft anderer Meinung: nicht nur sorgten sie um die Gesundheit ihrer Frauen, denen ein „Negligé“ auch für den Winter von der Mode vorgeschrieben war, sondern sie klagten auch wohl in sehr eindringlicher Weise öffentlich, daß ihnen die griechische Natürlichkeit denn doch etwas zu weit gehe. Aber wann hat das je etwas geholfen! Im Grund der Seele fanden auch sie die „Simplicität für das Reizendste“.

Es war nicht nur das sündhafte Paris, welches solche achtzehnlöthige Anzüge liebte. Da finde ich eine Anpreisung der „Neuen Hemden“ einer Leipziger Firma in der sehr geachteten „Allgemeinen Modenzeitung“, und zwar im redaktionellen Theil. Sie werden genau beschrieben, mit ihren Kanten an Busen und Nacken, mit ihrer gestickten Knötchenarbeit etc.; 5 bis 6 Thaler kostet eins. Dann aber sagt der kundige Redakteur: „Trägt eine Dame ein solches Hemd, so braucht sie weiter kein Kleid und erreicht den höchsten Grad von Eleganz!“

Ja, ja! Damals als Großmama jung war – damals war’s noch so einfach in der Welt. „Echt antik können freilich,“ so heißt es 1801, „nur sehr junge und sehr schön gebaute Damen gehen!“ Aber die Mode ist doch nicht für die Häßlichen da! Die mögen sehen, wie sie mit ihr sich abfinden!

„Echt antik“? Die Alterthumswissenschaft von heute wird gewiß nur lächeln zu der Kleidung einer Frau wie der Königin Luise, die doch wahrlich das Zeug dazu hatte, „echt antik“ sich zu tragen, und die es auch that. Weil das Kleid weiß ist, weil es dicht unter der Brust geschnürt wurde, ist’s noch nicht griechisch. Der Schnitt hatte auch nicht das Geringste etwa von jenem der atheniensischen Jungfrauen des Parthenonfrieses. Die trugen weite, mit wenig Spangen zusammengehaltene Tücher, die sich faltig um den Körper legten. Das war züchtig und gab schöne, völlig durch die Gesetze der Körperbewegung und die Schwere der Stoffe erzeugte Formen; das war eben wirklich Natur und Einfachheit. Den Frauen von 1801 lag aber die Schlichtheit der Griechinnen so fern, als jenen irgend einer anderen neueren Zeit. Ihnen war das Kleid nicht ein Mittel, sich zu verhüllen, sondern um doppelt anreizend zu wirken. Die Natürlichkeit wurde in ihrer Hand ein Mittel, um sich an die äußersten Grenzen des Anstandes wagen zu können. Es ist die Frage, welche Art von Kleidern die verwerflichsten sind, jene, die eine übertriebene Pracht zeigen, oder jene, welche zwar sehr einfach sind, auf die aber Fr. Vischers, des großen Aesthetikers und Modefeindes, Ausspruch: „In Kleidern nackt“ mehr paßt als auf alle anderen!

Jede Mode beruht aber meist unbewußt auf der die Zeit beherrschenden allgemeinen künstlerischen Anschauung. Das Rokoko hatte sich im Reifrock, in einer unmäßigen Verbreiterung und Erweiterung der menschlichen Figur durch das Kleid gefallen. Der Schneider erhielt die Herrschaft über den Menschenleib. Die Revolution brach mit diesem System und – treu ihrer grausamen Entschiedenheit des Wollens – verfiel sie in den äußersten Gegensatz: sie forderte vom Frauenkleid, es solle die natürlichen Formen ganz rein wiedergeben, der Schneider verschwand, die Formen traten fast unvermittelt hervor. Das war die völlige Umkehr der Mode, die freilich schon von England her vorbereitet worden war. Man kann ihr Kommen kulturgeschichtlich verfolgen. Wo das alte selbstherrliche Königthum, die mit ihm verbündete, jedem freien Luftzuge sich versperrende Kirche herrschten – dort war in der Kunst die Formenwillkür, in der Mode das Bauschige, die Nichtachtung der menschlichen Gestalt, die Steigerung dieser oder einiger ihrer Theile ins Uebertriebene. Wo die junge Freiheit, die nach und nach alles Wissens sich bemächtigende Aufklärung herrschte, da strebte man in der Kunst nach antiker Abklärung und klassischer Formenreinheit, dort wurde das enganliegende Gewand Mode. Es ist kein Zufall, daß Werther in engem Leibrock, Reithosen und Stulpstiefeln ging. Denn der modisch Denkende, der von der fortschreitenden Litteratur Erfaßte, der Schwärmer für Homer und später für Ossian – der mußte das enge Kleid der Aufklärung tragen, ebenso sicher wie der Hofmann, der Anhänger des alten Regierungssystemes, der Gegner der „Libertins“ sich in bauschigem Gewande gefiel.

So frei waren die Freiheitsheldinnen von 1801 aber doch auch in ihrer Kleidung nicht, wie die Griechinnen es gewesen sind. Die tausendjährige Kultur ließ sich auch in der Kleidung nicht ohne weiteres abstreifen. Sie offenbarte sich in ganz unklassischen, der Kleidung noch anhaftenden Schneiderkünsten. Gerade diese simplen Anzüge forderten besonders vorsichtigen Schnitt. Wenngleich die Kleider überaus leicht sein sollten, so waren sie doch nicht eben so leicht zu machen.

Betrachten wir die Modeblätter jener Zeit. Zunächst fällt die erstaunliche Länge der Frauengestalten auf. Eine normale Frau hat die siebenfache Höhe ihres Kopfes. In den Modebildern steigt sie auf die elffache Höhe. Wenn auch die Aesthetiker es nicht werden zugestehen wollen, so sind doch, wie es schon einmal in der „Gartenlaube“ (1889, S. 699 f.) auseinandergesetzt wurde, tatsächlich Modefiguren Werke eines gesteigerten Idealismus. Sie geben in freilich oft rücksichtsloser Uebertreibung der Menschengestalt jene Verhältnisse, welche den Frauen selbst als schön erscheinen.

Millionen von klugen und thörichten Jungfrauen und Frauen betrachten die oft erschrecklich verzeichneten Blätter mit dem stillen Wunsche, ihnen ähnlich zu werden. Sie sehen in ihnen die Steigerung dessen, was am eigenen Körper als reizend, als anmuthig erscheint, d. h. also ihre Ideale. Wenn die Modefiguren mithin so schlank gezeichnet werden, daß der Leib fast auf die Hälfte seiner natürlichen Breite eingeschränkt wird, Hüfte und Brust bis zu einer Schmalheit zusammengedrängt werden, die auf Beschauer mit anderen Idealen äußerst lächerlich wirkt – so sehen wir, was die Frauen damals erstrebten. Das Kleid war dicht unter der Brust zusammengefaßt; ohne jede Querfalte, meist ohne jede Falte überhaupt fiel es bis zum Fuß herab, hinten oft in langer Schleppe endend. Dadurch wirkte der Untertheil des Körpers sehr lang, sehr schlank. Die Figur, nicht in der Mitte durch den scharfen Abschnitt der Taille getheilt, erhielt etwas Biegsames, leicht Bewegtes. Die Schönheiten des weiblichen Körpers traten unverhüllter als in irgend einem anderen Kostüm hervor.

Diese Kleider unserer Großmütter waren nach unseren Begriffen entschieden unanständig. Bei ihrer Leichtheit ist es kein Wunder, daß, als geordnetere Verhältnisse eintraten, die gute Gesellschaft – und das heißt ja so viel als die modische Gesellschaft – sich die Rundtänze verbat und die Menuetts wieder aufnahm, daß man sich des Wortes von Abraham a Santa Clara erinnerte: „Ein tugendhaftes Mädchen soll sein wie eine Orgel – die schreit, wenn man sie antastet.“ Aber das Kleid selbst gab man nicht auf und man fand es zu jener Zeit auch keineswegs unanständig!

Das „Negligé“ war damals ein anerkanntes Gesellschaftskleid, das meist erst zum Abend abgelegt wurde. Die Frauen wollten aussehen, als seien sie eben taufrisch aus den Armen des Schlafes hervorgegangen. Thatsächlich aber erschienen sie wie ungenügend bekleidet.

Aber das menschliche Auge wird von der Gewohnheit beherrscht. Man gewöhnte sich an das Kleid. Nur die ersten Trägerinnen hatten kühn sich über den herkömmlichen Anstand weggesetzt, die Folgezeit fühlte sich in ihrer Tugend nicht erschüttert. Nicht die Zionswächter guter Sitten verdrängten es, sondern die Mode lebte sich aus wie jede andere.

Der Wandel ist das Lebenselement der Mode. In der hohen Kunst wie in der Kleidung giebt es einen Augenblick, wo selbst das Schönste uns zu ermüden beginnt. Unser Auge hat unter der Fülle der möglichen Naturformen eine als ihm besonders wohlgefällig gewählt. Was diese Form bietet, erscheint als schön. Jeder ist bestrebt, sie sich anzueignen. Langsam, Schritt für Schritt wird sie fortgebildet: alle Welt glaubt, man befinde sich auf dem Wege allgemeinen Fortschreitens in das unerreichbare Gebiet der Ideale. Auf tausendfältigem Wege wird dem einen leitenden Formgedanken zugestrebt. Diese Einheit des Strebens nennt man in der Kunst Stil, in der Kleidung Mode. Beide führen nothwendig zur Uebertreibung einer Formenerscheinung. Diese kann bis ins Unglaubliche geführt werden, ehe die Welt sich klar wird, daß sie an einer Verzerrung arbeite. Nach und nach tritt aber, wenn das Aeußerste erreicht ist, Formenmüdigkeit ein. Der Drang nach einer Richtung läßt nach, ein neues Ideal bildet sich heraus. Und während die Welt diesem zustrebt, sieht sie mit höhnendem Erstaunen auf die verlassene Bahn zurück. Man schilt die alte Geschmacklosigkeit, während man sich inmitten einer Bewegung befindet, die ebenso der Geschmacklosigkeit zueilt.

Man sollte glauben, die Grundgestalt des Menschen gäbe einen festen Rückhalt für die Kleidung. Aber selbst diese unterliegt der Formenmüdigkeit, auch sie muß umgestaltet werden, um

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verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1891, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_010.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)