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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„Beruhigen Sie sich, mein Herr, es war nur ein kleiner Anfall ohne jede weitere Bedeutung. Ich bedaure sehr, daß Sie sich herbemüht haben, Herr Doktor! Ich werde alt und bin großen Aufregungen nicht gewachsen."

Der Arzt war bereits von seinem Begleiter über die Art dieser Aufregung aufgeklärt und entfernte sich mit einem sonderbaren Lächeln, nachdem er pflichtgemäß die üblichen Fragen gestellt hatte. Der Gutsherr sah jetzt wieder so lebensfrisch aus, sein Auge leuchtete von jugendlichem Feuer, ein Arzt war hier nicht mehr nöthig und konnte nur stören.

„Wir sind entschlossen, Ihr Anerbieten anzunehmen,“ sagte jetzt Christian, als der Doktor das Zimmer verlassen hatte, zu Stefanelly, der hei dem „Wir“ mit einem spöttischen Blick auf Theodor lächelte; „wollen Sie gleich einen Rundgang durch die Besitzung machen, durch den Park, die Stallungen? Ich fühle mich wieder bei vollen Kräften.“

Stefanelly lehnte dankend ab.

„Ich kenne Schönau zur Genüge, und die Einzelheiten sind für mich weiter nicht von Belang. Ich rechne, offen gesagt, nur nach Quadratmetern Bauplatz, weiter nichts, was darauf steht, ist für mich werthlos. Die Einrichtung beanspruche ich gar nicht. Sie sehen, Sie haben es mit einem coulanten Mann zu thun.“

Sein früher so ehrerbietiges Wesen hatte sich in ein völlig geschäftsmäßiges verwandelt.

Christian verursachte die trockene Erklärung über das künftige Schicksal Schönaus einen heftigen Schmerz, obwohl er kein anderes dafür hatte erwarten können. Der alte, ehrwürdige Park, das Schloß, die gut gepflegten Felder, die Musterstallungen – die heiligste Stätte seines Lebens – alles werthloses Zeug, zum Abbruch reif, eine Fläche von so und so viel Quadratmetern Bauplatz! Die Thränen traten ihm in die Augen, es war ihm, als müsse er alles widerrufen, das ganze Todesurtheil, das er über sein Schönau gefällt hatte. Er blickte auf Theodor, und dieser, sein Stammhalter, gab ihm wieder Muth. Den andern Tag sollte der Notar kommen.

Theodor küßte seinen Vater innig, er las alles in seinen feuchten Augen; er war ein guter Junge und vergoß selbst ein paar Thränen in seiner weichen erregten Stimmung, nahm aber trotzdem die Einladung Stefanellys, mit ihm in die Stadt zurückzufahren, an. Dieser denkwürdige Abend in seinem Leben durfte nicht in dem langweiligen Schönau vertrauert, der mußte der neuen glänzenden Zukunft entsprechend würdig begangen werden!

Als das stolze Gefährt in der Allee verschwunden war, trat der Rückschlag bei Christian ein: die Kniee wankten ihm, unsagbares Weh packte ihn; er schleppte sich mühsam in die Stallungen, las mit schmerzlichem Kopfnicken die alten halbverwischten Pferdenamen über den jetzt leerstehenden Ständen, „Achill“, „Esperance“, „Warwick“, „Esther“, kraute den Rindern, die, gewohnt, von ihm Obst, Rüben und dergleichen Leckerbissen zu bekommen, ihm von weitem entgegenschnupperten, die lockigen Stirnen. Von da ging er in den Park, zu den von Gesträuch überwucherten, ruinenhaften Götterstatuen, die er so liebte; zu seinen Lieblingsplätzen, wo er mit der Seligen gesessen hatte. Es dunkelte schon, der Mond zerriß den Nebel, durch eine Lücke der alten Akazien erblickte er das weiße Schlößchen mit den hohen, von reicher Stuccatur umgebenen Fenstern, seinen Thürmchen und verfallenen Terrassen; wie ein Traum aus alter Zeit, mondlichtumwebt, erschien es ihm, er bedeckte sein Antlitz mit dem großen blauen Schnupftuch und weinte und schluchzte wie ein Kind.

Der schrille Pfiff einer Lokomotive brachte ihn zu sich; fest auf seinen Stock gestützt, Trotz im Antlitz, ging er dem Schlosse zu.




3.

Die Heiligegeistkirche ist das älteste Gotteshaus der Stadt M ..., in jener urwüchsigen plumpen Gothik aufgebaut, welche wohl hauptsächlich durch den Mangel an einem gefügigen Baumaterial verschuldet war. Aus gebrannten Backsteinen werden keine „Strahlen der Andacht“, die in feiner Gliederung emporzucken zum Himmelsgewölbe, es ist vielmehr ernstes, kräftiges Werktagsgebet, welches darin zum Ausdruck kommt, und das war es auch, was Jahrhunderte hindurch von frommen Lippen dort gemurmelt wurde. Kurz, die Heiligegeistkirche ist eine streng bürgerliche Kirche, ihrem Bau, ihrem Aussehen, ihrer Umgebung und ihrer Gemeinde nach.

Sie liegt mitten in der Altstadt; die Giebeldächer drängen sich in mittelalterlicher Hilfsbedürftigkeit um den schützenden Koloß, einige wenige dunkle Gäßchen um ihn herum bildend, und nur die Portalseite liegt frei. Vor ihr breitet sich der Obst-, Gemüse-, Fleisch- und Fischmarkt. Das Himmlische und das Irdische kommt hier in vertrauliche Berührung; der Lärm der Käufer und Verkäufer mischt sich mit Orgeltönen und Choralgesang, man geht hinein, um für die Seele – heraus, um für den Leib zu sorgen. Das Gebetbuch kommt auf das appetitliche Sonntagsganserl zu liegen, der Rosenkranz verwickelt sich in das Grünzeug, Himmel und Erde vertragen sich vortrefflich und predigen hier laut ihre innige Zusammengehörigkeit.

Es war ein bitterlich kalter Dezembertag, die Sonne stand machtlos über der Heiligengeistkirche im frostklaren Himmelsblau. Auf dem Markte herrschte trotzdem reges Leben, nur ging der Verkauf heute schneller und ruhiger vor sich als gewöhnlich. Die weibliche Redseligkeit war offenbar eingefroren; man kämpfte nicht, wie gewohnt, eine halbe Stunde um ein oder zwei Pfennig, die stehenden Fragen, Lock- und Schmeichelworte wurden bedeutend verkürzt oder ganz weggelassen. Und doch herrschte eine auffallende Unruhe unter den Standbesitzern. Man rief sich zu, flüsterte sich in die Ohren, schlug die Hände zusammen, lachte spöttisch, blickte ärgerlich von allen Seiten auf das Zifferblatt oben am Thurm der Heiligengeistkirche – man erwartete etwas!

Da schlug die große Glocke an, ein tiefer Brummbaß; dazwischen hinein ein voller Tenor. Die Weiber schnellten förmlich empor aus ihren strohgefütterten Holzkästen, alles rannte, unbekümmert um die Kunden, vor die Standthüren und blickte gegen das Portal der Kirche, um welches eine Menge Volk sich gesammelt hatte.

„Na, die Großthuerei! Mit der großen Glock’n läut’n wegen so einer!“

„Je weniger nutz, desto mehr Glück!“

„Wie wir uns nur so herstell’n mögen, als käm a Prinzeß!“

Unzählige derartige Redensarten schwirrten durcheinander. Dann drängte sich alles der Kirche zu. Kälte, Kunden, Waren, alles wurde vergessen. Die „Damen der Halle“ schoben sich in die erste Reihe mit der Miene voller Berechtigung. Man sprach gar nicht mehr, die Erwartung war zu groß.

Der Schnee knirschte und tönte von nahenden Wagen; der erste rollte um die Ecke, noch einer, ein dritter, und noch immer kein Ende – jetzt wurden die Leute unruhig.

„Die Protzerei! A Schand’ is! A Schwind’l!“

Aus dem sechsten Wagen beugte sich ein Mädchen in vollem Brautschmuck, mit dem sichtlichen Bemühen, gesehen zu werden.

„Die Loni soll leben, hoch!“ rief jetzt ein junger Metzgerbursche aus der Menge heraus.

Der Ruf wurde von dem jungen Volk trotz heftigen Widerspruchs der Weiber begeistert aufgenommen, und das Mädchen im Wagen verbeugte sich hoch erröthend mit fürstlichem Anstand.

Es war die Trauung Hans Margolds mit Loni Weinmann. Der alte Margold hatte dem Drängen seiner Kinder nachgegeben und verkauft.

Wer nur irgend konnte, drängte sich in die Kirche, man kannte ja die ganze Sippe der Margolds und Weinmanns und war begierig, sie in ihrem vielbeneideten Glück zu sehen. Eine feierliche Hochzeit mit sechs Wagen, am Hochaltar der Heiligengeistkirche zwei Gärtnerskinder, die zwischen ihren Ständen aufgewachsen waren, das machte die Leute ganz verwirrt.

Endlich trat der Zug aus der Sakristei. Die Braut in weißem Atlas, kostbarem Schleier, geführt von zwei eleganten Herren im Frack – die Loni! das ungezogene Mädel, mit dem sie ihre Kinder gar nicht umgehen ließen. Wie sie stolz daher ging, das weiße Bouquet für mindestens zwanzig Mark in der Hand! Wo sie wohl die zwei Brautführer hergenommen hatte? Natürlich nicht aus der Familie, feine Herren waren’s –

vielleicht gar gute Freunde, ehemalige Kunden von Weinmanns! Hinter ihr der Hans, auch mit Frack und Cylinder, und neben ihm – wer ist denn die? Ein sauberes Mädel! Einfach und nett gekleidet und den Kopf sittsam gesenkt. wie sich’s gehört in der Kirche - ja, das ist ja die Bertl! die Bertl Margold! Die mit dem Baron! O, die wird die nächste sein in der Heiligengeistkirche,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_082.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)