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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Lieutenant Osten bemühte sich, unterstützt vom Hausherrn, einen großen Bogen Papier mit jenen geheimnißvollen Zeichen zu versehen, mittels deren man einen „Tempel baut“. Doktor Maiberg trat erstaunt näher.

„Wie, Leo, Hazard?“

„Sehr harmlos, mein Herr,“ erwiderte Lieutenant von Osten, „ich versichere Sie; es wird nur Nickel gesetzt.“

Leo hatte aufgesehen und eben bemerkt, daß Antje unter den Vorhängen der Zimmerthür verschwand. „Ich bitte Dich, Wolf,“ flüsterte er hastig, „gehe ihr nach, sage ihr, ich lasse sie bitten, so bald als möglich zurückzukommen.“

Maiberg folgte ihr in den Flur und erblickte die junge Frau, wie sie eben die Treppe hinaufstieg. „Gnädige Frau,“ rief er, „gestatten Sie ein Wort!“

Sie stützte beide Hände auf das Geländer und bog sich zu ihm hinunter. Der Lampenschimmer des Kandelabers lag wie Gold auf ihrem blonden Haar.

„Leo läßt Sie bitten, uns nicht auf zu lange Zeit zu verlassen,“ sagte er.

„Ich komme gleich zurück,“ erwiderte sie leise, „ich – –“ sie stockte – „ich wollte nur meiner Mutter gute Nacht sagen und die Kleine einmal sehen,“ vollendete sie rasch.

Er trat zurück und sie schritt vollends hinauf. Welch eine weiche kindliche Stimme sie hatte! –

Und oben, an dem Bettchen der schlummernden Kleinen, da setzte sie sich nieder zu Füßen einer stattlichen älteren Frau und schmiegte den Kopf wie ein müdes Kind an die Kniee der Mutter; sie sprach auch hier nicht, sie streichelte nur die Hände, die großen weißen Hände, in denen sich die Thatkraft der ganzen Persönlichkeit aussprach, als wolle sie durch diese stumme Liebkosung wieder gut machen, was der Mutter weh geschehen war.

„Du glaubst gar nicht,“ begann Frau Klaartje Frey gütig, „welch ein Fest das heute abend für mich war, mein Enkelchen so ganz für mich zu haben. Ich erzählte ihm Märchen und sang ihm Lieder wie Dir einst; es war so hübsch, Antje!“

Die Tochter drückte jetzt einen Kuß auf die Finger, die sie in den ihrigen hielt. Sie wußte ganz genau, die Mutter sagte dies, um jeden Verdacht zu beseitigen, daß sie etwa nicht freiwillig hier oben geblieben sei. Als ob Antje heute nachmittag nicht gesehen hätte, wie die alte Dame ihr grauseidenes Kleid aus dem Schranke nahm und die kleine Brillantnadel aus dem Etui holte, um sich für die Gäste des Hauses zu schmücken.

„Wie Du es nur aushältst, Kind,“ sprach die Mutter weiter; „ich konnte solche Gesellschaften nie ertragen und ich war so recht froh, als Leo auf meine Klage: ‚Ach Gott, ich wollte es wäre erst überstanden!‘ meinte, ich sollte mich doch nicht zwingen!“

Wie sie, um ihr Kind zu schonen, lügen konnte, diese Frau, die sonst die Rechtlichkeit in Person war!

Antje sprach noch immer nicht. Sie erhob sich endlich. „Ich muß wieder hinunter gehen,“ sagte sie mit abgewandtem Gesicht.

„So schlaf wohl, Herz, und unterhalte Dich gut!“ scholl es ihr nach, „ich gehe zu Bette, ich bin sehr müde.“

Auch das war eine Lüge! In dem Schlafzimmer der Frau Klara Frey schimmerte das Licht bis weit über Mitternacht hinaus; sie selbst saß in ihrem pelzgefütterten Morgenkleide am Tische und hatte eine Menge Papiere vor sich. Auf dem vollen Gesicht, das echt holländisches Gepräge trug, lag in diesem Augenblick kein Hauch mehr von jener Herzensgüte, die es der Tochter gegenüber vorhin gezeigt hatte. Es hatte jetzt nur den Ausdruck ernster, banger Sorge und tiefen Widerwillens, und als sie nun mehrere Reihen namhafter Zahlen auf einem Blättchen Papier zusammengerechnet hatte, legte sie den Bleistift weg, faltete die Hände und sah in finsterem Erschrecken auf die stattliche Summe. „Barmherziger Gott!“ flüsterte sie fassungslos. Nach einem Weilchen erhob sie sich müde, wie gelähmt; die Hände, die das Spitzenhäubchen von dem blonden, hier und da mit Silberfäden durchzogenen Scheitel nahmen, zitterten, und ein tiefer Seufzer zog durch das stille Gemach. „Und wenn sie wenigstens glücklich wäre! – Aber das geht doch nicht so fort,“ sprach sie nach einer Weile, „das geht doch nicht!“ –

Dann fuhr sie erschreckt empor; sie hatte keinen Schritt vernommen, nicht gehört, daß die Thür gegangen war – und dort stand Antje, noch in voller Toilette, aber blaß und verwacht, und ihre Augen sahen erstaunt die Mutter an.

„Du bist noch auf, Mütterchen?“ fragte sie.

Die große, etwas starke Dame hatte flüchtig auf die Uhr gesehen; sie zeigte ein paar Minuten nach halb Vier. „Ja, Kind, je älter man wird, um so weniger braucht man den Schlaf. Ich sah die Abrechnungen durch, Du batest mich ja darum, da habe ich Zeit und Weile darüber vergessen; aber, was willst Du denn, Antje?“

Das Gesicht der Tochter war noch um einen Schein bleicher geworden. „Ich wollte Dich bitten – Du bist es ja gewohnt, Mütterchen – Kinder wollen immer etwas von den Eltern, nicht wahr?“ – sie gab sich Mühe, unbefangen zu sprechen, aber sie faßte sich ein paarmal nach der Kehle, als würge sie etwas – [„]also, ich wollte Dich fragen, ob Du mir vierhundert Mark geben könntest – Leo hatte – Leo braucht es augenblicklich, und ich – Du weißt, Mütterchen, das Vierteljahr geht zu Ende, ich habe soviel wie nichts mehr –“

Die Arme waren ihr niedergefallen, und den Kopf hielt sie gesenkt; sie hatte genau dieselbe Stellung wie als Kind, wenn sie einen Wunsch vortrug, von dem sie annahm, er sei gräßlich unbescheiden.

„Jetzt braucht Leo das Geld, in diesem Augenblick?“

„Ja!“

„Aber, ums Himmelswillen, wozu?“ forschte die Mutter.

„Sie haben aus Uebermuth ein wenig gespielt, Mütterchen – Leo macht sich gar nichts daraus, aber die Baronin liebt es so sehr, und nun – hat Leo verloren.“

Frau Bergrath Frey ging ohne weitere Worte an die Kommode unter dem Spiegel und nahm vier Banknoten heraus. „Hier, Antje!“ sagte sie tonlos.

„Ach, Mütterchett, sei nicht böse!“

„Geh’ nur, Kind, und schlafe aus!“

„Liebes Mütterchen –“

„Ich bin todmüde, Antje!“

Die junge Frau küßte die Mutter und entfernte sich mit dem Gelde.

Die Zurückbleibende stand regungslos, die Hände ineinander gefaltet, und sah ihr nach.

„Du barmherziger Gott!“ sagte sie endlich; dann setzte sie sich auf den Lehnstuhl vor ihrem Bette, und es war, als ob diese große starke Frau unter einer unsichtbaren Gewalt zusammenbräche. „Wenn das Frey erlebt hätte; wie seine Prophezeiung wahr zu werden beginnt, Schritt für Schritt in fürchterlichem Ernst!“ flüsterte sie. Und wieder falteten sich ihre Hände; sie sah ihre Tochter lächeln, mit dem traurigen müden Lächeln, das sie früher nie an ihr gekannt hatte. „Hätte sie doch den Ferdinand genommen, hätte sie auf uns gehört! Aber – was nützt das Klagen noch? – Hilf mir, Gott! Laß das Kind nicht verderben, es ist mein Einziges!“ sprach sie im Gebet, und die Thränen flossen ihr über die Wangen. Als jetzt aber vom Hofe unten Lachen und Plaudern herauftönte und dazwischen das Anschlagen von Schlittenglocken, da lösten sich die verschlungenen Hände und die Rechte schloß sich zur Faust. „Noch bin ich da,“ murmelte sie, „fürchte Dich nicht, Antje, noch hast Du eine Mutter, und es soll biegen oder brechen!“




Am andern Morgen stand Antje in der Kinderstube neben Doktor Maiberg am Bette der Kleinen; das Kind fieberte ein wenig, und so hatte sie den Gast bitten lassen, nachzuschauen, ob es etwas Ernstliches bedeute.

Er beruhigte sie, und, entzückt von dem hübschen blonden Kinde, setzte er sich neben das Bettchen und begann mit der Kleinen zu plaudern; dabei schaute er die junge Frau besorgt an. Antje fühlte sich entschieden elend; sie hatte unnatürlich rothe Wangen und ihre Augen schienen trübe und verweint.

„Wird Leo heute nach seinem Atelier fahren?“ fragte der junge Arzt.

„Er hat mir noch nichts gesagt, aber ich denke doch wohl, daß er heute hier bleibt – Ihretwegen, Herr Doktor! – Sie –“

„Das sollte er nicht thun,“ meinte Wolf Maiberg, „seine Beschäftigung darf unter meiner Gegenwart nicht leiden, sonst bin ich genöthigt, meinen Koffer zu packen und weiter zu ziehen.“

„O, einen Tag Pause – –“ antwortete sie zerstreut, „es würde Leo sogar gut thun – er sieht so schlecht aus in der letzten Zeit – finden Sie das nicht auch?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_087.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)