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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

als gerade schicklich, und war schließlich eine halbe Stunde früher gefahren, als er anfänglich bestimmt hatte. Von den Zurückbleibenden hatte er kurz Abschied genommen mit den Worten: „Langweilt Euch nicht zu sehr!“ – Antje hatte dann noch eine Tasse Mokka am Nebentisch bereitet, war pflichtschuldig neben dem Gaste sitzen geblieben, bis er sie geleert, und hatte kein Wort gesprochen, bis auf „Gesegnete Mahlzeit!“, als sie sich trennten.

Den Kopf in die Hand gestützt, grübelte er nach; auf welcher Seite lag hier die Schuld? Wer von den beiden wehrte dem Glück, diese Schwelle zu betreten? – Es war so still um ihn her, das ganze Haus schien wie ausgestorben. Was mochte die junge Frau jetzt beginnen? fragte er sich. Ob sie wohl wieder vor dem Bettchen des Kindes saß? Ob sie weinte, weil die Mutter sie so rasch verlassen hatte im Unfrieden mit Leo? Er gähnte plötzlich wahrhaftig, es kam ihm gespensterhaft langweilig vor in diesem Sibyllenburg. Endlich nahm er ein Buch in die Hand, es war „Der Hungerpastor“ von Raabe. Er kannte es wohl und liebte es sehr. Ja, ja, Hunger thut weh; es giebt Leute mit viel Hunger und solche mit wenig Hunger, und Leo hatte viel, Antje dagegen schien keinen zu kennen. Daß so zwei zusammenkommen mußten! Und Maiberg wußte, wonach Leo hungerte: nach Ruhm, nach Anerkennung, nach einer befriedigenden Thätigkeit, nach einem Herzen, das mit ihm strebte, mit ihm ehrgeizig war, und das er in seiner Frau nicht finden zu können glaubte. Freilich, sie hungerte wohl auch, sie hungerte nach seinem Vertrauen, nach seiner Liebe, sie hungerten beide nach gegenseitigem Verständniß. –

Ob der Herr Doktor eine Tasse Thee bei der gnädigen Frau nehmen wolle, fragte ein Diener.

Er erklärte sich sogleich bereit und folgte dem Manne durch Leos Atelier und ein kleines Vorzimmer in das „Boudoir der gnädigen Frau“, wie es der Diener bezeichnete. Maiberg schüttelte den Kopf; es war ein grenzenlos kokettes Zimmerchen, in dem er stand. Wände, Sessel und Taburetts mit großblumigem Seidendamast bezogen; die schweren Vorhänge über einem Ruhebette hielt ein reizend modellirter lächelnder Amor aus Bronze zurück. Die Möbel mit Metallverzierungen zeigten anmuthige, aber sehr verschnörkelte Formen. Kostbare Gruppen von altem Meißner Porzellan, meistens Scenen aus der griechischen Götterwelt, standen auf Konsolen, Etageren und vor den Spiegeln. Hier lag ein echter Rokokofächer nachlässig auf einem Tischchen, als hätte ihn eben noch eine schöne Hand gebraucht; dort, auf dem Pult eines prächtig erhaltenen alten Spinetts, stand das Notenbuch aufgeschlagen; Maiberg sah, daß es ein französisches Liebeslied aus der Zeit der Pompadour war; und in dem Bücherschränkchen paradirte in verblichenen rosa und blauen Sammeteinbänden eine ganze Reihe von Erzeugnissen jener Memoirenlitteratur, in der die schönen Seelen von „Anno dazumal“ sich selbst belogen.

Es war ein reizender Maskenscherz, dieses ganze Zimmer, aber undenkbar für den täglichen Gebrauch einer Frau wie Antje.

Sie trat eben ein; ihr graues Cheviotkleid mit dem Besatz aus dunkeln Litzen nahm sich seltsam aus in dieser koketten Pracht.

„Es ist sehr freundlich von Ihnen, mir Gesellschaft leisten zu wollen,“ sprach sie zu Maiberg, „der Thee soll gleich hier sein.“

„Ist dies Ihr Zimmer, Ihr Wohnzimmer?“ fragte er, aus seinem Erstaunen erwachend.

„Es ist mein Zimmer, Herr Doktor, Leo hat es für mich eingerichtet.“

„Und gefällt es Ihnen?“

Sie ward verlegen. „Zum Wohnen ist es mir ein wenig zu ungemüthlich, ich habe neben der Kinderstube ein anderes, das ist –“

„Dann, bitte, lassen Sie uns in diesem andern Thee trinken,“ bat er, sie unterbrechend.

Sie lächelte. „Mir ist es recht, Herr Doktor, aber Sie müssen vorlieb nehmen; Leo sagt, sie sei schrecklich, die Stube.“

„Ich begreife Leo nicht, gnädige Frau! Wie kann man darauf versessen sein, sogenannte stilvolle Gemächer zu bewohnen? Das Zimmer soll den Charakter seines Bewohners zeigen, behaglich, heimlich sein; dieses hier ist lediglich eine Zusammenstellung von Requisiten für die Bühnendekoration eines altfranzösischen Lustspiels! Sie sind doch keine Rokokoschäferin!“ Er sprach ganz ärgerlich, während er ihr über den Gang folgte. „Ich verstehe überhaupt nicht,“ fuhr er fort, „wie Leo jemals ein Bild malen kann in seinem Atelier. Das strotzt ja von Farben und muß verwirren, zerstreuen. Wissen Sie, was Goethe sagt, Frau Jussnitz? Er sagt, eine Umgebung von geschmackvollen, bequemen Möbeln hebe sein Denken auf; prachtvolle Zimmer mit elegantem Hausgeräth seien etwas für Leute, die keine Gedanken haben oder keine haben mögen.“

Sie hatte die Hand eben auf den Drücker einer Thür gelegt, nun wandte sie sich um. „Es ist möglich, daß Goethe recht hat,“ antwortete sie ruhig, „ich meine sogar, dichten kann man auch, wenn man blind ist – ein Maler aber dichtet mit den Augen.“

Er blickte sie überrascht an, sie aber trat still über die Schwelle eines kleinen Zimmers und sagte mit einer anmuthig einladenden Gebärde: „Nun suchen Sie sich einen recht gemüthlichen Platz, Herr Doktor; wenn Sie erlauben, nehme ich mir eine Handarbeit.“

Ja, so hatte er sich ihre Umgebung gedacht. „Hier ist es traut,“ sprach er halblaut und sah umher in dem kleinen Raum mit seiner einfachen und doch so anmuthigen Einrichtung. Dort das Nähtischchen am Fenster unter einer Gruppe Blattpflanzen; der Schreibtisch, das bequeme Sofa, über dem die Bilder eines Herrn und einer Dame hingen, vermuthlich der Eltern der Bewohnerin. Die Aquarellskizze darunter stellte sicher das heimische Nest vor, in dem Antje ihre Jugend verlebt hatte. Allerlei lieber, mädchenhafter Tand hing und stand umher. Da lag die angefangene Arbeit auf dem Tischchen, daneben ein Buch. Maiberg sah, es war ein Kochbuch, „Nürnberger Lebküchlein auf altdeutsche Art“ las er. Aber er konnte nicht lächeln, es überkamen ihn längst vergessene Kindererinnerungen, wie er als kleiner Knirps neben der stattlichen Mama gestanden und das Mäulchen aufgesperrt hatte, damit sie ihn kosten lasse von dem süßen Weihnachtskuchenteig. Und als er näher zum Schreibtisch trat, um über demselben die Inschrift eines sogenannten Haussegens zu lesen, drangen ihm die wunderbaren Worte des Neuen Testamentes in die Seele: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.“ – Und „die Liebe ist langmüthig und freundlich, sie eifert nicht, sie suchet nicht das Ihre.“

Er wandte sich um und sah sie an, als sähe er sie jetzt zum ersten Male. Sie war am Tische beschäftigt mit dem Thee; wie geräuschlos, wie anmuthig waltete sie! Die kleine roth gestickte Schürze kleidete sie so gut und der Lampenschein lag so friedlich auf dem schlichten goldenen Scheitel; die Uhr tickte und die Maiglöckchen auf dem Blumentisch sandten einen süßen Duft durch den Raum. Von nebenan klang die Stimme des Kindes herüber, das mit seinem Spielzeug plapperte. Eine Welt voll heimlichen, unbeschreiblichen Reizes!

Maiberg hatte sie schon einmal erlebt, diese Stunde, aber wo? aber wann? Oder war es das Ideal seiner Zukunftsträume, das er sich – wie oft schon! – ausgemalt hatte? Er nahm stumm die Tasse aus der Hand der jungen Frau und setzte sich ihr gegenüber, sie aber schraubte die Flamme unter dem Kessel herunter und griff zu ihrer Arbeit; es war ein Kinderschürzchen. Und nun bat sie: „Erzählen Sie mir ein wenig, Herr Doktor, von Leo, als er noch fröhlich und ungebunden mit Ihnen in der Welt umherlief. Es war seine glücklichste Zeit, behauptet er immer. – Nicht wahr,“ setzte sie hinzu, „er war ganz anders früher?“

Er schwieg und rührte in der Tasse umher und sah nicht auf. Erst als er bemerkte, wie sie die Arbeit in den Schoß sinken ließ, begann er, ohne auf ihre letzte Frage einzugehen: „Ja, ja, das waren die Brausejahre, ein jeder muß sie durchmachen. Aber so etwas erscheint in der Erinnerung doppelt schön, weil man das Widrige dabei vergessen hat.“ Er wußte nichts Besseres vorzubringen als diesen Gemeinplatz und sann auf ein anderes Thema.

Da hörte er sie sprechen: „Glauben Sie nicht auch, daß Leo furchtbar unter der mangelnden Anerkennung seines Talentes leidet?“

„Leo ist noch jung, gnädige Frau, und eigentlich fängt er wohl jetzt erst an, ernstlich zu arbeiten.“

Sie stach sich eben in den Finger; ihre Hand, welche die Nadel führte, hatte gezittert. Mit einem ganz veränderten Gesichtsausdruck sah sie an dem jungen Arzt vorüber. Da war es wieder,

das erstickende beklemmende Gefühl, das seit gestern von Zeit zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_102.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)