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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


„So bin ich entlassen für heute?“ fragte sie mit einem Lächeln, das nur sehr schlecht ihren Schmerz verbarg.

„Welch ein Ausdruck! Ich merke, daß es Ihnen schwer wird, und will Sie nicht quälen.“

Hilde wandte sich um und ging durch eine Tapetenthür in das Nebenzimmer, wo sie sich umzukleiden pflegte. Leo hatte sich indeß der Tante Polly genähert, die eben ihr Strickzeug zusammenwickelte.

„Wollen Sie heute abend Fräulein Hilde dieses Päckchen unter den Weihnachtsbaum legen?“ bat er, ihr einen kleinen wohlverpackten Gegenstand einhändigend.

„Kann ich ja thun,“ meinte Frau Polly, „ein Bäumchen putzen wir auch, ’s ist zwar eigentlich ein Vergnügen für Kinder, doch man will nun einmal seine Freude haben. Die Hilde wird sich freuen, denn wer sollte ihr etwas schenken, ausgenommen ich? Das sind dann aber Sachen, wissen Sie, die man so wie so haben muß.“ Sie steckte das Kästchen in ihren Pompadour unter den grauen Wollstrumpf und erhob sich, um den Mantel anzuziehen.

Jussnitz vergaß, ihr zu helfen; er war wieder zur Staffelei gegangen und schaute das Bild an.

Nach einigen Augenblicken erschien das junge Mädchen. Sie kam festen Schrittes herüber zu ihm. „Adieu!“ sagte sie kurz und reichte ihm die Rechte, ohne ihn dabei anzusehen.

„Adieu, Hilde!“ erwiderte er und behielt die kleine, heiße Hand fest in der seinen, „Adieu, Hilde, auf Wiedersehen, und glückliche Feiertage!“ Er fühlte, wie sie zitterte; heftig riß sie ihre Hand aus der seinen, so daß der ohnehin etwas weite baumwollene Handschuh zwischen seinen Fingern blieb.

„Danke schön, Hilde!“ rief er mit Lachen. Es klang ebenso gezwungen wie das ihrige vorhin. Er steckte den auf so sonderbare Weise erbeuteten Handschuh in die Tasche seines Sammetjacketts.

Sie zuckte nur stumm die Schultern und ging der Tante voran aus der Thür. Frau Polly rannte mit fliegenden Hutbändern hinterdrein. „Aber so warte doch ums Himmelswillen, ich bin ja noch nicht fertig!“ rief sie fast außer Athem.

Hilde stand schon unten in der Hausthür. Der Wind fuhr sausend an ihr vorüber, er klapperte an den geschlossenen Fensterladen und schlug die Zweige der hohen Bäume zusammen; es war ein weiches, lenzgemahnendes Duften in der Luft. Und das Mädchen starrte mit seinen sehnsüchtigen Augen in die Wolken hinauf, die am Himmel dahinjagten; sie hatte die Lippen geöffnet, als sei sie durstig, und es war ihr, als müßte sie hinausschreien in den Sturm, die Seele damit zu befreien von einer furchtbaren Angst. Die Regentropfen fielen auf ihr blasses Gesicht, das sie nach oben gerichtet hielt, der Wind schob ihr den Hut zurück und zauste ihr dunkles Haar über der niederen Stirn, das traurige junge Antlitz war in diesem Augenblick rührend schön.

„Ist Herr Jussnitz zu Hause?“ fragte plötzlich eine Stimme. Vor ihr, nur um die drei Stufen des Eingangs niedriger, standen ein Herr und eine Dame. Die letztere hatte gefragt; eine sanfte kinderhelle Stimme war es, und aus dem pfaublauen Kapotthütchen, das sie trug, blickte ein liebliches Gesicht.

„Ja!“ sagte Hilde, und indem sie mit beiden Händen nach ihrem Hut griff, um ihn zurecht zu rücken, trat sie zur Seite.

Die Dame kam die Stufen herauf. Ihre Augen sahen groß unter dem Halbschleier hervor in die Hildes. Zögernd trennten sich die Blicke beider von einander, und als Hilde sich umwandte, der jungen Frau nachzusehen, da hatte auch diese ihren Kopf gedreht, und wieder trafen sich die fragenden Blicke. Der stattliche blonde Herr stand noch, den Hut über dem Scheitel haltend, außerhalb der Thür, aus welcher jetzt Tante Polly, knixend und um Entschuldigung bittend, die Nichte hinaus drängte. Dann verschwand auch er im Innern der Villa.

„Wer die wohl sind?“ fragte Tante Polly.

„So komm doch!“ antwortete Hilde ungeduldig. Aber sie dachte das Gleiche, nur leidenschaftlicher, ungestümer.

Vor dem Gartenthor fuhr eine elegante Equipage langsam hin und her.

„Das wird schon denen ihr Wagen sein,“ seufzte Tante Polly und betrachtete den schmutzigen Weg.

„Möglich!“ gab Hilde zu. Und sie wanderten weiter. Tante Polly sprach nicht mehr; Hildegard hatte einmal wieder ihren „übelnehmerischen Tag“, und da half nichts weiter, als daß man sie ruhig austrotzen ließ, wollte man sich nicht ärgern. Und Tante Polly wollte sich nicht ärgern. Erstens bekam ihr das schlecht, und dann – wegen der Zukunft! – „Wenn es nur endlich mal soweit wäre,“ sagte sie sich, „Weihnachten ist doch eigentlich so eine schöne Gelegenheit zu dergleichen; niemals stehen soviele Verlobungsanzeigen in den ‚Nachrichten‘ wie in den Weihnachtsfeiertagen.“

Als die beiden die Pferdebahn erreichten, spendirte Tante Polly das Fahrgeld, weil es doch Heiliger Abend und weil das Wetter gar so gräulich sei. An irgend einem Halteplatz fuhr die Equipage, die sie vorhin bemerkt hatten, rasch an ihnen vorüber. Hilde erkannte durch die Scheiben des Wagens Jussnitz auf dem Rücksitz.

„Das waren ja die Sibyllenburger,“ sagte ein junges Mädchen, welches der Sealskinkragen und die Hutform, sowie das lange schmale Gesicht als Engländerin kennzeichneten, zu einer sehr deutsch aussehenden alten Dame in brochirtem seidenen Mantel, durch deren Fülle Hildes schlanke Gestalt fast verdeckt wurde.

„Kennst Du sie, Maud?“

Yes – nicht eigentlich, ich kenne die Rappen, sie sind sehr schön.“

„Also nach Sibyllenburg geht er!“ sagte sich Hilde; für ihr Leben gern hätte sie gewußt, wo dieses Sibyllenburg liegt. Sie nahm sich vor, die Büdchenbesitzerin zu fragen, nöthigenfalls könnte sie sich eine Karte von Dresden und Umgegend kaufen.

Kaufen – ja kaufen! Hilde verfügte nicht über ein paar Pfennig mehr. Sie hatte nichts gearbeitet; das kleine Taschengeld, das sie sich immer durch Bemalen von Portemonnaies und Fächern verdient hatte, war seit ihrer Uebersiedelung nach Dresden ausgefallen. Sie hatte keinen Pinselstrich gethan, sie war gemalt worden, und an den Nachmittagen, die sie für sich hätte benutzen können, hatte sie träumend am Fenster gesessen, zum Schein eine Arbeit vor sich; oder sie war in folternder Unruhe umher gegangen in den Straßen, weiter, immer weiter, bis sie zum Tode erschöpft heimkam.

(Fortsetzung folgt.)




Erinnerungen an Schliemann.
Von Rudolf Virchow.


II.

Eine der wunderbarsten Erscheinungen an dem reich beanlagten Manne war sicherlich die ausgedehnte Beherrschung, ich möchte fast sagen: zahlloser Sprachen. Es gab kaum eine europäische Sprache, die Schliemann nicht sprechen, lesen und schreiben konnte. Als ich ihn genauer kennenlernte – er war damals in einem Alter von etwa 56 Jahren – verstand er von den germanischen Sprachen außer Deutsch Holländisch, Englisch, Dänisch und Schwedisch, von den romanischen Lateinisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch, von den slawischen Russisch und Polnisch, von den hellenischen Alt- und Neugriechisch, von den orientalischen Arabisch, Türkisch und Hebräisch, letztere beide allerdings nur unvollkommen. Nichts war gewöhnlicher, als daß er unmittelbar hintereinander mit 5 oder 6 Personen, die verschiedenen Nationalitäten angehörten, sich in ihrer Muttersprache unterhielt. Ich war mit ihm in Paris und London, in Griechenland, Kleinasien und Aegypten: überall war er bereit, ausgedehntere Vorträge in der Landessprache zu halten. Die Nothwendigkeit eines Dolmetschers trat, soweit meine Erfahrung reicht, nur im Verkehr mit Türken und Kopten hervor; sonst genügte er nicht bloß unserem Bedürfniß nach Verständigung mit den Eingeborenen, sondern er war in der Lage, auch allen den Fremden zu antworten, welche

sich in großer Zahl an ihn herandrängten, angezogen durch den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_104.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)