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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Wüste, obwohl auf ihm zwei jener herrlichen Lebbachbäume[WS 1] stehen, deren prächtiger Wuchs in Cairo den ankommenden Fremden überrascht.

Unter dem gewaltigen Blätterdache eines dieser Bäume vollzogen sich alle feierlichen Handlungen. Hier waren wir bei unserer Ankunft von sämmtlichen männlichen Mitgliedern der Familie empfangen und bewirthet worden. Und hier hielt Schliemann jeden Abend nach unserem Nachtmahl eine Art von Gebetstunde ab.

Eine große Laterne, unsern Stalllaternen ähnlich, ein moderner Einfuhrartikel, wurde in den Sand gestellt, Schliemann setzte sich davor auf eine kleine Holzbank, die Nubier hockten auf der Erde und bildeten einen großen Kreis um die Laterne. Innen blieb ein freier Raum, um den sich bald die Käfer sammelten, die in geschäftiger Eile dem ungewohnten Licht zustrebten und mit ihren Hinterleibern sonderbare Zeichnungen in den Sand einschnitten. Alles lauschte in stiller Erwartung dem Beginne des Vortrags.

Dann begann Schliemann aus dem Gedächtniß eine Sure des Korans zu recitiren; seine anfangs dumpfe Stimme hob sich mehr und mehr, und wenn er dann in der ihm eigenen ekstatischen Weise die Schlußworte sprach, so neigten alle ihr Haupt und berührten mit der Stirn die Erde. Nach einiger Zeit pflegte Schliemann dann noch eine zweite Sure vorzutragen, und so reich war sein Gedächtniß, daß er fast jeden Abend neue Abschnitte zu geben imstande war. In feierlicher Stimmung schieden dann unsere braunen Freunde; niemals wurde der Ernst des Vorganges durch eilte unziemliche Bemerkung oder auch nur Miene unterbrochen.

Wie aber war Schliemann zu einer Kenntniß des Korans gekommen, die weit über das Maß des Wissens unseres Imam hinausginge Im Jahre 1858, als er 36 Jahre alt war, kam er zum ersten Male nach Aegypten und plante in Gemeinschaft mit Professor Wedl von Wien eine Nilreise. Damals verstand er kein Wort Arabisch Er übertrug daher die Zurüstung der Dahabieh, auf welcher die Reise gemacht werden sollte, einem deutschen Kaufmann in Cairo. Als derselbe aber seine Rechnung brachte, gewann Schliemann aus allerlei Anzeichen die Ueberzeugung, daß er schwer betrogen worden sei. Das veranlaßte ihn, Arabisch zu lernen. Mit gewohntem Eifer machte er sich an die Arbeit und schon während der Fahrt, die bis zu dem zweiten Katarakte ausgedehnt wurde, kam er soweit, daß er sich über die nötigen Bedürfnisse und die gewöhnlichen Verhältnisse ohne Dolmetscher verständigen konnte. Aber auch nach seiner Heimkehr setzte er diese Studien fort. Nach seiner Methode machte er sich daran, größere Abschnitte arabischer Schriften auswendig zu lernen. Dazu wählte er das heilige Buch der Mohammedaner. So begann seine genaue Bekanntschaft mit dem Koran, die uns von so großem Nutzen werden sollte. Es ist gewiß bezeichnend, daß noch die letzte Zerstreuung, die er sich auf seinem Krankenlager gönnte, in der Lektüre einer neuen Ausgabe des arabischen Textes von „Tausend und einer Nacht“ bestand, die ihm sein Verleger, Herr Brockhaus, besorgt hatte.

Wie er den Koran recitirte, so trug er den Homer vor. Auch die altgriechische Sprache, die von der neugriechischen so große Verschiedenheiten darbietet, hatte er erst in reifen Jahren, 1856, zu erlernen begonnen, aber sie hatte ihn sofort mit einem solchen Enthusiasmus erfüllt, daß er zwei Jahre lang fast ausschließlich Homer und die anderen klassischen Schriftsteller las. Die Ilias und die Odyssee wurden ihm so geläufig, daß jedesmal, wenn die Rede auf eine Begebenheit der homerischen Epen oder auch nur auf ein zweifelhaftes oder wichtiges Wort kam, er die betreffende Stelle sogleich oder nach kurzem Besinnen im Zusammenhange wiederzugeben vermochte. Und wie gern that er es! Wie hob sich seine Stimme, gleich der eines begeisterten Sängers, um dem Hörer in ausdrucksvoller Weise nicht nur die Bedeutung, sondern auch die Schönheit der Verse nahe zu bringen! Er hatte einen trefflichen Konkurrenten: das war seine Frau Sophia. Oft genug nahm sie den Faden der Dichtung da auf, wo er endete, und ihre Begeisterung klang nicht minder vernehmlich aus der Wärme ihres Vortrages hervor.

Sonderbarerweise gab es einen verborgenen Gelehrten in der Troas, der dieser Zuverlässigkeit der homerischen Erinnerung wenigstens nahe kam. Wir besuchten ihn noch im vergangenen Frühjahr in seinem ärmlichen Zimmer in Neochori (Yanikiö), einem kleinen griechischen Städtchen am Südende des Sigeion, wo er eine Art von Privatschule hält. Für Schliemann war derselbe eine solche Merkwürdigkeit, daß er den Kaiser von Brasilien, Dom Pedro, der die Troas aufgesucht hatte, zu ihm führte. Der Mann gehört zu jener Klasse von „Stillen im Lande“, die, ohne jeden näher liegenden politischen Zweck, die Tradition der Griechen in der Zerstreuung lebendig erhalten, ohne welche Tradition schwerlich ein so langer Widerstand gegen die herrschende Rasse möglich gewesen wäre. Aber freilich fehlt ihm auch jenes Feuer der Begeisterung für die alten Dichter, welches erst der deutsche Mann aus dem kalten Norden zu einer solchen Gluth neu zu entfachen vermochte.

Für manche, auch streng philologisch geschulte Männer ist diese Begeisterung unverständlich, ja anstößig geblieben. Man kann zugestehen, daß Schliemann im Verfolg derselben gelegentlich sonderbare Konsequenzen zog. Es war z. B. eine Art von Schrulle für ihn geworden, alle Personen seiner Umgebung mit homerischen Namen zu belegen. Die ganze Dienerschaft erhielt altertümliche Bezeichnungen und wurde so gerufen. Ich erinnere mich noch lebhaft der Schwierigkeiten, die es mir machte, einen seiner Aufträge auszuführen. Im Jahre 1879, als ich ihn nach meiner ersten trojanischen Reise verlassen hatte, wünschte er, daß ich ihm für seine Kinder eine deutsche Erzieherin besorgen solle. Ich fand endlich eine junge Dame, welche seinen Anforderungen zu entsprechen schien, und sie war auch sehr geneigt, nach Athen zu gehen. Aber sie sollte den Namen Jkawi (Hekabe, neugriechisch ausgesprochen, lateinisch Hecuba) erhalten. Die ganze Verhandlung drohte zu scheitern, bis endlich der Rufname Wrisiis (Briseis) vereinbart wurde.

Diese Neigung kann um so weniger verständlich erscheinen, als irgend eine nähere Beziehung der Eigenschaften zwischen den klassischen Persönlichkeiten und ihren umgetauften modernen Namensvettern gar nicht verlangt wurde. Unsere Köchin auf Hissarlik hieß Hippodamia, der Diener Pelops. Ihre Nachfolger im letzten Frühjahr wurden Kreusa und Telamon gerufen. Indeß, ich habe mich allmählich daran gewöhnt, weil ich sah, daß die Griechen überall gewohnt sind, den Ihrigen hochklingende alte Namen beizulegen. Der Mann aus Kalifatli, der mir 1879 gewöhnlich ein Reitpferd stellte, hieß Agamemnon und der Sohn unseres Faktotums, des nachher im Skamander ertrunkenen Nicola, führte den Namen Hektor. Es verhält sich mit diesen Namen nicht anders, als mit den bei uns gebräuchlichen Namen aus der heiligen Schrift, die ja auch nicht den Anspruch machen, eilte körperliche oder geistige Aehnlichkeit der Träger dieser Namen mit den Männern und Frauen des alten und neuen Testamentes auszudrücken. Sie besagen nichts weiter, als daß die Namen sich einer besonderen Werthschätzung erfreuen, gelegentlich auch noch mehr, daß sie als solche geheiligt sind.

Für Schliemann gab es Zeiten, wo er sich ganz van der Gegenwart abwandte und ausschließlich im Alterthum lebte. Da fand er nach den zerreibenden Arbeiten, nach den Aufregungen der Gegenwart Kraft und Gleichmut wieder. Darum liebte er die langen Seereisen, welche ihm stets Gelegenheit gaben, sich in das Studium alter Schriftsteller zu versenken. Den größten Genuß gewährte ihm seine zweite ägyptische Reise im Winter 1886-87. Erschöpft von größeren litterarischen Arbeiten, hatte er sich nach Cairo begeben. Hier mietete er für sich allein eine eigene Dahabieh , ein großes Segelschiff, das mit Küche und Proviant wohl versehen wurde. Er ging damit bis nach Assuan; dann nahm er jenseit des ersten Katarakts ein neues Schiff und fuhr bis Wadi Halfa. Eine solche Fahrt, wobei die Richtung und Stärke des Windes allein entscheidend sind für die Zeitdauer, da auch die Thalfahrt durch widrigen Wind oft Tage lang gehindert wird, dauert mehrere Monate. Schliemanns einzige Gesellschaft waren die mitgebrachten Bücher. Außer einigen früheren Reisebeschreibungen, unter denen er die von Prokesch besonders liebte, waren es vorzugsweise die alten atheniensischen Dramatiker, deren Herrlichkeit sich ihm bei der Vertiefung in das Einzelne mehr und mehr erschloß; sie ließen ihn jede Störung der Reise gleichmütig ertragen. Noch in den letzten stillen Tagen, die ich mit ihm im letzten Frühjahr in

Hissarlik verlebte, tauchten die Erinnerungen an besonders eindrucksvolle Stellen dieser Dichtungen massenhaft hervor und er

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Lebbekbaum (Albizia lebbeck (L.) Benth.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_107.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)