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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

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Wanderungen durch Wien.

Von V. Chiavacci. Mit Zeichnungen von W. Gause.
Die innere Stadt.

Die österreichische Kaiserstadt an der schönen blauen Donau steht in diesen Tagen am Ausgangspunkte einer neuen Entwicklungsphase. „Groß-Wien“, das lang erstrebte und lang bestrittene Ziel, soll endlich zur Wahrheit werden, und mit der Auflassung der Linienwälle und der Eingemeindung der Vororte geht die lange zum verhältnißmäßigen Stillstand verurtheilte Stadt einer ganz neuen – und hoffen wir, glücklichen Zukunft entgegen.

An dieser Wende in der Geschichte der alten Kaiserstadt dürfen wir wohl die Leser einladen, mit uns einen Gang durch ihre Straßen und Gassen, ihre Gärten und Plätze zu machen; und wenn dann einst die späteren Bürger des neuen Wiens erfahren möchten, wie es einst, vor jener Wende, ausgesehen hat in ihrer Heimath, dann mögen sie den alten „Gartenlaube“-Band aufschlagen und im Geiste unsere heutige Wanderung wiederholen.

Ein Spaziergang durch Wien muß nothwendig vom Stefansplatz seinen Ausgang nehmen. Daß hier das Herz der alten Kaiserstadt pulsirt, ersieht man nicht nur aus dem riesigen Verkehr, der zwischen der Kärntnerstraße und der Rothenthurmstraße an der Hauptfassade des ehrwürdigen Domes vorüberfluthet; weit empfindlicher noch zeigen dies die hohen Miethpreise an, welche für Kaufläden und Wohnungen in diesem Stadttheile bezahlt werden. Von altersher galt der Stefansthurm, dessen Vollender, Meister Friedrich Schmidt, in diesen Tagen erst unter allgemeiner Theilnahme zu Grabe getragen wurde, den Wienern als das Wahrzeichen und Heiligthum ihrer Stadt. Wenn Krieg, Pest oder Hungersnoth die Bürger von ihrer friedlichen Arbeit wegschreckte, so versammelten sie sich in der dämmerigen Halle des uralten Gotteshauses und die tiefen Glockenklänge des Thurmes hallten zusammen mit den inbrünstigen Gebeten des bedrängten Volkes. In Freud und Leid, bei Siegen und Niederlagen war der Platz vor dem gothischen Riesenbau die Stätte, an welcher das Volk von Wien gemeinsame Kundgebungen veranstaltete. Seit Jahrhunderten wurzelt daher die Liebe zu dem herrlichen Gotteshause in dem Herzen des Wieners, und weil er gern Menschen und Dinge, die ihm lieb geworden, in ein gemüthliches Verhältniß zu sich setzt, so fand er auch bald für den Dom einen vertraulichen Kosenamen. Der „alte Steffel“ ist das zärtlich geliebte Wahrzeichen, der Stolz jedes Wieners. Wenn diesen in schlimmen Tagen kleinmüthige Gefühle beschleichen, so stärkt ein Blick auf den „alten Steffel“ sein Selbstvertrauen und seinen Muth. Er fühlt sich als den Enkel eines wackeren Geschlechtes, das über ein Jahrtausend hier gewaltet und Großes geleistet hat – zäh und ausdauernd in furchtaren Zeiten der Gefahr, emsig und lebensfroh in guten Tagen. Wenn der Wiener in die Fremde zieht, so ist der blinkende Schein des goldenen Adlers auf dem Stefansthurme das letzte Bild, das in seinem umflorten Auge glänzt, und wenn ihn das Heimweh in der Fremde anwandelt, so giebt er seiner Sehnsucht mit den Worten Ausdruck:. „Ach, könnte ich nur einmal noch die Spitze des Stefansthurmes schauen!“

Nach dem Gesagten ist es kein Wunder, daß der alte behäbige Wiener Bürger, welchen unsere Anfangsvignette zeigt, den Ausdruck der Bewunderung, den er im Antlitz eines den Stefansdom umwandelnden Fremden beobachtet, glänzenden Auges und behaglich schmunzelnd zur Kenntniß nimmt.

Der Fremde hat den rothgebundenen Reiseführer in der Hand, blickt aber nur selten hinein; er ist ergriffen von dem Zauber des mächtigen gothischen Bauwerkes, an dessen Riesengliedern sein Auge staunend emporgleitet, während es bei dem schönen Ebenmaß der Theile und dem reichen, phantasiervoll durchgebildeten Zierat mit sichtlichem Interesse verweilt. Das ist genug für unsern Wiener, um ihn für den Fremden einzunehmen. Er umkreist ihn dergestalt, daß er ihm immer ins Antlitz sehen kann, und jeder Ausdruck der Bewunderung und Freude in den Mienen des Fremden wirkt auf die Gesichtsmuskeln des alten Herrn zurück und ruft ein drolliges Echo derselben Empfindungen wach, die er aus dem Gesichte des Fremden zu lesen glaubt. Dabei bemächtigt sich seiner eine nervöse Unruhe; er öffnet mehrmals den Mund, um den Fremden anzusprechen, scheint aber das schickliche Wort nicht zu finden.

Als aber der Fremde auf seiner Wanderung vor der Hauptfassade angekommen ist und sich anschickt, sich aus dem Reiseführer Rath zu holen, da leidet es den Alten nicht länger in seiner stummen Rolle. Er tritt an den Mann, den er sich nun einmal zum Schützling erkoren hat, heran und sagt zu ihm in einem Tone, als ob er ein längstbegonnenes Gespräch fortsetzte.

„Und das ist das Riesenthor. Wie, was haben Sie gesagt? Ja, Riesenthor heißt’s. Warum? Das weiß ich selber net. Wahrscheinlich, weil es das größte ist. Eigentlich heißt es das Westportal. Einer der ältesten Theile des ganzen Bauwerks, sehr merkwürdig. Schauen Sie nur das große Mittelbild an: Jesus im Eirund! Ein Meisterwerk, so einfach und so verständlich: der Erlöser segnet alle, die zu ihm eingehen. Das ist noch alles romanisch, auch die beiden Heidentürme und die symbolischen Friesleisten; da könnte man stundenlang hinschauen; hat alles eine tiefe Bedeutung. Haben Sie die Kanzel an der Außenseite des Domes schon gesehn? Geschichtlich sehr merkwürdig! Hier hat der asketische Mönch Capistran in lateinischer Sprache zum Kreuzzug gepredigt und die Wiener zur heldenmüthigsten Begeisterung hingerissen. Kopf an Kopf haben sie gestanden und athemlos der Predigt des klapperdürren Männchens gelauscht, das mit dem Kruzifix in der Rechten und der Fahne in der Linken seine begeisternden Worte wie Donnerkeile unter die Menge schleuderte. Nicht wahr, Sie möchten auch mehr zurücktreten, um einen Gesammteindruck zu gewinnen? Ja, das ist ja der Schmerz von uns Wienern, daß uns der Stefansplatz gar so stiefmütterlich zugestutzt worden ist. Da, seh’n Sie das Riesengebäude an! Wie das sich protzig unserm ‚alten Steffel‘ gegenüberstellt, als wollt’s sagen: ‚I bin a wer!‘ Ja, seh’n S’, lieber Herr, das ist halt wo anders anders. Wenn man ein bißl in der Welt herumgekommen ist, so stellt man Vergleiche an. Hierher gehört ein Monumentalbau à la Galeria Vittorio Emanuele in Mailand. Hab’ ich recht oder unrecht? Ah, richtig; bald hätt’ ich vergessen, mich Ihnen vorzustellen: Hainfelder, Fabrikant. Einer, der noch übrig geblieben ist aus der guten alten Zeit.“

Mit diesen Worten, welche er in dem Bestreben, hochdeutsch zu reden, mit starken Anklängen an seinen heimischen Dialekt hervorsprudelte, hatte er sich als echter „Wiener vom Grund“ ausgewiesen, der trotz aller Begeisterung für seine schöne Vaterstadt doch stets mit einer Art Wollust die Mängel und Unterlassungssünden seines Gemeinwesens hervorhebt.

Der Fremde lüftete den Hut und nannte seinen Namen: „Fritz Werner.“

„Freut mich, freut mich sehr,“ sagte Herr Hainfelder. „Sie g’fall’n mir, Herr Fritz Werner. Ich schau’ Ihnen schon lang’ zu, mit welcher Begeisterung Sie unsern Steffel betrachten. So was thut ein’ alten Wiener wohl. Wenn’s angenehm ist, so begleite ich Sie und zeig’ Ihnen die Stadt.“

Der Fremde nahm das Anerbieten seines freundlichen Berathers mit Vergnügen an, und Herr Hainfelder führte ihn zunächst über den „Stock im Eisen“-Platz auf den Graben.

In einer Nische der seinerzeit vielbesprochenen und bewitzelten Springerruine steht das uralte und ehrwürdige Wahrzeichen der

Stadt, welches man den „Stock im Eisen“ nennt. Es ist dies ein mehr als mannshoher bis auf das letzte Fleckchen mit Nägeln

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_123.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)