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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Der freche Geselle mit dem herausfordernden Blick und dem brutalen Gesichtsausdruck, welcher durch die schief gesteckte Virginiacigarre und die über die Schläfen gedrehten ‚Sechsundsechziger‘ ein charakteristisches Gepräge bekommt, ist ein ‚Strizzi‘ aus den westlichen Vororten, ein ‚Pülcher‘, der sich wahrscheinlich mit der Burgmusik bis hierher verirrt hat und jetzt nach einem Fang ausspäht.“

„Verzeihung! Was ist denn ein ‚Strizzi‘ und ein ‚Pülcher‘?“ fragte der Fremde.

„Das sind unsere Lazzaroni,“ erwiderte Herr Hainfelder, „arbeitsscheue, verwahrloste Bursche, welche ihren Lebensbedarf aus hundert unlauteren Erwerbsquellen schöpfen. Im Winter bringen sie die Nächte in ‚Schnapsbutiken‘ oder in verrufenen ‚Tschecherln‘, ganz kleinen Kaffeeschänken, zu, im Sommer schlafen sie bei der ‚grünen Bettfrau‘ und machen die Wohnungen unserer Sommerfrischler unsicher. – Geb’n S’ acht, der ‚Pülcher‘, den Sie hier seh’n, ist ein Taschendieb. Ich hab’ dafür einen unfehlbaren Blick,“ fuhr Herr Hainfelder fort. „Ich bitt’ Sie, Herr von Werner, wollen Sie mir eine kleine Gefälligkeit erweisen? Stellen Sie sich gütigst vor diese Buchhandlung, halten Sie Ihren rothen Bädeker in der Hand und studieren Sie arglos die ausgestellten Bücher!“

Der Fremde that, wie ihm geheißen, und Herr Hainfelder stellte sich in unauffälliger Weise in seine Nähe. Nach einigen Minuten bemerkte der Strolch den Köder, rekognoscirte eine Weile und drängte sich dann ganz nahe an den Fremden heran. Plötzlich that er, als ob er von einem Passanten einen Stoß erhalten hätte, hielt sich einen Augenblick an den Fremden an und sagte „Paardon!"

„Halt!“ rief Herr Hainfelder und packte den Gauner bei der Rechten, „hab’ ich Dich, Bürscherl, und so schön in flagranti – na, nix wegwerfen, ’s Geldbörserl schön b’halten, bis die Sicherheit ’kommen is.“

Bei diesen Worten umklammerte er die Hand des Strolchs wie in einem Schraubstock, so daß es diesem unmöglich war, die gezogene Geldbörse fallen zu lassen. – Sofort versammelte sich um die Gruppe eine ungeheure Menschenmenge, bis ein Sicherheitswachmann erschien und den Burschen dingfest machte.

„Ich dank’ Ihnen vielmals, und nix für ungut,“ sagte Herr Hainfelder zu seinem Begleiter. „Ich habe Ihnen nur an einem Beispiel zeigen wollen, wie gut der Fremde thut, nicht gar zu arglos seine Schaulust zu befriedigen. Wien ist zwar kein solches Goldland für Diebe wie London oder Berlin, aber die paar Fremden, welche uns mit ihrem Besuch beehren, sind für unsere Gauner doch eine gute Kundschaft.“

Der Fremde mußte lächeln über diesen Taschendiebentlarvungskursus mit Demonstrationen und schritt an der Seite seines freundlichen Führers weiter über den eleganten und belebten Kohlmarkt auf den Michaeler Platz.

„Da hat unser liebes, trauliches altes Burgtheater gestanden,“ sagte Herr Hainfelder, auf eine Gebäudeecke des von Fischer von Erlach entworfenen und teilweise ausgebauten Burgtraktes mit der Winterreitschule deutend. „Hier stand vor zwei Jahren noch der unscheinbare Bau, in dessen beschränkten Räumlichkeiten durch viele Jahrzehnte hindurch den Wienern der edelste Kunstgenuß geboten wurde. Ein Gefühl der Wehmnth beschleicht jeden gebildeten Wiener, wenn er den nunmehr leeren Platz betrachtet, wo jeder von uns soviele Stunden reiner Freude und edelster Kunstbegeisterung genossen hat. Der Einlaß ins Burgtheater! Herr, das war zu meiner Zeit ein sehenswerthes Schauspiel. Wie oft habe ich mich, kaum daß ich den Löffel weggelegt, um 2 oder 3 Uhr nachmittags unter dem Einfahrtsthor der Reichskanzlei oder im Hofe der Winterreitschule aufgestellt und mit Hunderten von Kunstbegeisterten geduldig auf das Oeffnen des Thores gewartet. Was da für Leute zusammenkamen! Die Witze und das Kritisiren, die Schwärmerei der halbflüggen Mädchen für ihre Götter, das Nachahmen der Schauspieler, das Hersagen klassischer Stellen –. Ja, ja, das war eine schöne Zeit! Vielleicht erscheint sie mir gar so schön, weil ich damals jung war; ich bilde mir wenigstens ein, daß ich später, als ich mir einen festen Sitz kaufen konnte, niemals wieder das Hochgefühl der Begeisterung empfunden habe wie damals. Das ist jetzt alles vorbei, vorbei!“

Der unvollendete Theil der Burg, von dem ein herrliches Bruchstück in der Winterreitschule des Fischer von Erlach vorhanden ist, soll jetzt nach den Plänen dieses Meisters ausgebaut werden, und zu diesem Zwecke hat man auch schon mit dem Niederreißen der Häusergruppe zwischen dem Michaeler Platz und der Schauflergasse begonnen.

„So, jetzt kommen S’ geschwind mit mir auf den inneren Burgplatz mit dem Kaiser Franz-Denkmal, damit wir die Burgmusik nicht versäumen.“ Herr Hainfelder nahm seinen Schützling am Arm und führte ihn durch das Einfahrtsthor der Reichskanzlei auf den inneren Burgplatz, wo eben die Burgwache mit klingendem Spiel abgelöst wurde. Die „Burgmusik“ bietet ein eigenartiges Schauspiel, welches kein Fremder versäumen sollte. Die Wachabtheilung. welche unter Voranschreiten einer Militärkapelle aus einer der Vorstadtkasernen in die Burg marschirt, um dort ihre Posten zu beziehen, wird regelmäßig von einem lawinenartig anschwellenden Schwarm von Gassenjungen, beschäftigungslosen Individuen, Vagabunden und Spaziergängern begleitet, welche die schöne Gelegenheit eines Freikonzertes in behaglichster Lauue genießen.

Nachdem sich dieses buntbewegte Bild vor den Augen unserer beiden Wanderer abgespielt hatte, warfen sie noch einen Blick auf die geschichtlich und architektonisch gleich bedeutenden Gebäudeflügel, welche den inneren Burgplatz umrahmen: die herrliche Fassade der Reichskanzlei mit den beiden Kolossalgruppen an den Seiten der Durchfahrten, dann den Amalienhof und endlich den uralten Schweizerhof mit dem romantischen Schloßgraben und dem malerischen Epheugeranke, in welchem viele Tausende von Spatzen nisten und zur Sommerszeit ein betäubendes Geschrei anstimmen.

Durch die Thoreinfahrt des Schweizerhofes gelangt man auf den in vornehmer Abgeschlossenheit liegenden Josefsplatz, dessen Mitte das herrliche Monument Zauners, die Reiterstatue Kaiser Josefs II., ziert. Den Hintergrund des Platzes bildet das imposante, von Fischer von Erlach erbaute Hofbibliothekgebäude; die beiden Flügel sind gebildet von den Redoutensälen einerseits und dem Gebäude der geologischen und mineralogischen Sammlungen andererseits. Dieses Gebäude dient jedoch bereits andern Zwecken, weil die Sammlungen seit einem Jahre in dem großartigen neuen naturhistorischen Museum auf dem Burgring untergebracht sind. Der schöne Platz wird an seiner vierten Seite von dem lebhaften Verkehre, welcher zwischen der Albrechtsrampe und dem Michaeler Platze fluthet, durchbrochen. Architektonisch bildet sie einen würdigen Abschluß durch die Paläste Pallavicini und Palffy. Die Thoreinfahrt des ersteren Gebäudes bewachen vier Kolossalstatuen, weibliche Karyatiden, ein prächtiges Werk des genialen Zauner. Um die Theaterzeit und an Sonntagen vormittags, wenn in der Augustinerkirche das Hochamt celebrirt wird, ist hier ein großes Gewoge von Equipagen und Fußgängern, welches wegen der engen Passage in der Augustinerstraße und unter dem Schwibbogen des Burgstallgebäudes manchmal beängstigend wird. Die Augustinerkirche ist wegen der vorzüglichen Sologesänge während des Gottesdienstes, die von ersten Künstlern ausgeführt werden, stets von einem großen Publikum besucht, und auch der Fremde darf an ihr nicht vorübergehen, schon wegen des herrlichen Grabdenkmales der Erzherzogin Christine nicht, welches von der Meisterhand Canovas herrührt.

Nun zurück über den Michaeler Platz durch die Herrengasse mit ihren stattlichen Palästen, den stolzen Herrensitzen der Trauttmannsdorff, Wilczek, Liechtenstein, Herberstein, Clary, Traun, Stadion, Batthyany, mit dem Landständehaus und dem Nationalbankgebäude. In der Herrengasse und dem unmittelbar daranliegenden Stadttheile stehen die stattlichen Adelsburgen und verleihen demselben einen Charakter der vornehmen Ruhe und Behaglichkeit, welcher von dem geschäftlichen Treiben der anstoßenden Straßen auffallend absticht. In dieser Gasse befinden sich auch zwei stark besuchte Kaffeehäuser, welche den Unterschied zwischen einst und jetzt am deutlichsten zum Ausdrucke bringen: das altbewährte Café „Griensteidl“ mit seinem anheimelnden Ecken- und Winkelwerk, seinen niedrig gewölbten Zimmern, seinen litterarischen Stammgästen und historischen Plätzchen, seinem „Hofschauspielerzimmer“, seinem stadtbekannten Zahlmarqueur und seiner reichen Auswahl an Zeitungen und Monatsschriften. Hier geht es noch sehr patriarchalisch zu. Man sieht um dieselbe Stunde jeden Tag dieselben Menschen an denselben Plätzen, welche manche von ihnen schon seit Jahrzehnten einzunehmen gewohnt sind. Ganz anders im Café Central, welches im ehemaligen Börsengebäude an der Ecke der Herren- und Strauchgasse im üppigsten Stile eingerichtet ist. Man tritt in eine hohe, in maurischem Stile gehaltene Säulenhalle;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_126.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)