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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

ebenfalls ein Zeitungsblatt, stellte sich ans Fenster und begann zu lesen.

In diesem Augenblick trat Antje ein.

„Nun?“ rief Jussnitz ihr entgegen.

„Sie wird bei uns bleiben, Leo.“

„Ah, wirklich!“ sagte er nachlässig und faltete ganz gegen seine sonstige Gewohnheit die Serviette zusammen, indem er bemerkte: „Ich werde also das Bild hier fertig malen.“

Antje machte sich irgend etwas an dem Tisch zu schaffen; es war, als habe sie die Worte ihres Mannes nicht gehört. Dann faßte sie abermals nach ihrem Schlüsselkörbchen, um ihren Hausfrauenpflichten nachzugehen. In der Thür wandte sie sich noch einmal um und sagte: „Fräulein von Zweidorf wünscht Dich zu sprechen, Leo, bevor Du nach Dresden fährst; sie erwartet Dich in meinem Salon oben – ich gehe nachher in die Kirche. Du bist wohl zum Mittagessen wieder zurück, denn ich möchte nicht gern den Leuten bescheren ohne Dich.“

Er murmelte irgend etwas, was wie eine Zustimmung klang, dann war sie verschwunden.

„Classen,“ sagte sie unten in der Küche, „das Fräulein wird längere Zeit hier im Hause bleiben.“

Die alte Frau blickte ihre Herrin prüfend an, aber aus dem stillen Gesicht war nicht zu lesen, ob ihr der Besuch eine Freude sei oder eine Last. „Ist recht,“ sagte sie, „aber ich würd’ so ’ne Schauspielerin nicht in meinem Hause behalten!“

„Sie ist keine Schauspielerin, Classen,“ erwiderte Antje müde und sah von den großen Weihnachtsstollen auf, an die sie theilnahmslos Zettel mit den Namen der künftigen Eigenthümer geheftet hatte; „sie ist eine Jugendfreundin meines Mannes, und der malt sie jetzt, weil sie so sehr hübsch ist.“

„Seine Freundin? Zu was braucht einer eine Freundin, wenn er so eine Frau hat!“ brummte sie vor sich hin und begann ärgerlich, ihre großen Töpfe und Pfannen zu rücken. „Wenn eine gut ist und gefügig,“ murmelte sie weiter, „dann ist’s ein schönes Ding, aber zu gut und zu nachgiebig, das ist – –“ Was sie noch halblaut denken wollte, ging in dem Respekt unter, den sie vor der jungen Hausfrau hatte. „Die bringt ihre Gutheit noch zu Schaden!“ seufzte sie und sah ihr nach.

Antje begann, in ihrem Schlafzimmer den Anzug zu wechseln, da sie ja zur Kirche gehen wollte. Sie gab dabei nicht acht darauf, daß die Thür zu dem Rokokozimmer etwas offen stand. Sie hatte Eile, denn es war ein weiter Weg, und sie fühlte das Bedürfniß, zu Fuß zu gehen in der frischen Winterluft; auch wollte sie Maiberg nicht warten lassen, der gebeten hatte, sie begleiten zu dürfen.

Da schlug auf einmal ihres Mannes Stimme an ihr Ohr.

„Etwas hat mir ja das Fest doch auch gebracht, Hilde.“

Eine lange Pause folgte, dann sprach er weiter, so langsam und deutlich, daß der jungen Frau auch nicht die leiseste Nüance verloren ging. „Ich habe ein Bild verkauft in Berlin; was sagen Sie dazu, Hilde? – Hilde, freut Sie das nicht? Sie hatten ja doch sonst immer eine so wohlthuende Theilnahme an meinem Schaffen? Mich verlangte gestern schon, Ihnen das zu erzählen, aber Sie waren ja so gleichgültig, so ungebärdig, daß ich – so dürfen Sie nicht wieder sein, Kind, es schmerzt mich. Sagen Sie, freut es Sie nicht?“

„Gewiß freut es mich; ich gratulire Ihnen zu diesem Erfolg,“ klang es eiskalt zurück.

„Hilde! Mein Gott, Hilde!“ – unendlich weich und fremdartig klangen diese wenigen Worte in Antjes Ohr, sie fühlte, so konnte nur einer sprechen, der bis ins tiefste Herz getroffen war. – „Hilde, nicht diesen Ton, er ist nicht echt, nicht wahr!“

Antje stützte sich plötzlich fest auf die Platte ihres Toilettetisches; ihr schmales weiches Gesicht hatte in diesem Augenblick einen ganz verzerrten Ausdruck. Da – da war es wirklich, was sie gefürchtet – der Beweis, daß sie – seine Frau – ihm nichts mehr war. Gewaltsam hielt sie das Schluchzen zurück, das sich ihr in die Kehle drängte; dann lief sie hinüber in die Kinderstube und warf sich neben der Kleinen auf die Kniee.

„Maus!“ stieß sie athemlos hervor, das zierliche Geschöpfchen an sich pressend. „Maus, es darf nicht sein, es kann nicht sein wir wehren uns, Maus, wir wehren uns!“ Und mit bebenden Lippen wiederholte sie noch einmal: „Wir wehren uns, wir geben ihn nicht her, den Papa.“

Und als die Kleine, vor der ungewohnten Heftigkeit der Mutter sich fürchtend, zu weinen begann, tröstete sie das Kind mit sanfter Stimme, aber sie hatte dabei immer nur das eine Wort: „Wir geben ihn nicht her, den Papa, nein, nein!“

„Nicht hergeben, Papa!“ wiederholte treuherzig die beruhigte Kleine, der die dicken Thränen auf den Bäckchen standen, „nicht hergeben, lieben Papa!“




Tante Polly war in der Christnacht nicht aus den Kleidern gekommen. Die kleine Person hatte sich die Wirkung ihrer Worte erst klar gemacht, als es unten vor dem Hause still blieb und nicht zum dritten Male von der reuigen Sünderin die Schelle gezogen wurde, was sie mit Bestimmtheit angenommen hatte. Sie machte nach einer Viertelstunde vergeblichen Wartens leise das Fenster auf und lauschte hinaus; aber nichts rührte sich. Sie rief mit unwirscher Stimme: „Bist Du noch immer da?“

Niemand antwortete. „Hilde!“ rief sie noch einmal barsch, dann milder und hastig. „So antworte doch, sei nicht noch so verstockt obendrein!“

Alles blieb still.

Da stieg die alte Frau mit pochendem Herzen, den Hausschlüssel in der Hand, die Treppe hinunter und schloß vorsichtig die Thür auf. „Hilde!“ – Die Straße lag einsam und menschenleer.

„Gerechter Gott!“ murmelte Tante Polly, indem sie die Hausthür wieder schloß und rathlos in dem kalten finstern, nach Küchenkräutern duftenden Flur stehen blieb, „gerechter Gott, wo mag sie sein? Wenn sie sich nun etwas angethan hat aus Angst vor dem Vater – wenn sie etwa gar in die Elbe gesprungen wäre –“

Tante Polly bekam einen nervösen Angstzustand; sie tastete sich bis zu der Schlafkammer der Büdchenbesitzerin und klopfte. „Frau Hernicke, machen Sie auf, es ist ein Unglück geschehen!“

Die große Gemüsehändlern kam erschreckt, mit einer Lampe in der Hand, zum Vorschein. „Du liebe Güte, guteste Frau Postsekretärin, was ist’s denn?“

Tante Polly war kreidebleich. „Hernicken,“ jammerte sie, „meine Hilde ist fort – denken Sie doch nur! Sie ist gleich nach der Bescherung davon gerannt und läßt mich in der Todesangst bis um zwölf Uhr sitzen, und wie sie endlich läutet, hat mich der Zorn gepackt und ich habe hinuntergerufen, sie könnte bleiben, wo sie bis jetzt gewesen sei. Das hat sie sich in den Kopf genommen, und nun ist sie fort. Wenn sie nur nicht in die Elbe gesprungen ist, weil ich sagte, ich hätte an ihren Vater geschrieben – – Ach, ich Unglücksvogel, was fang’ ich an?“

„Aber, hören Sie, gute Frau Bergern, das war auch nicht recht von Ihnen – lieber Himmel, die wird wohl ’neingehuppt sein –“

Tante Polly zitterte am ganzen Leibe, als die Frau gutmüthig fortfuhr: „Ja, nun weiß ich auch keinen andern Rath, als daß wir abwarten müssen, ob sie sie finden. Die, die ins Wasser gegangen sind, kommen immer erst nach drei Tagen wieder hoch. Na, gute Frau Bergern, und nu man nich so obenaus; ich will Ihnen ein Tässchen Dhee kochen, damit Sie sich beruhigen. Ach lieber Gott, was man so erleben kann an den Kindern!“

„Aber, Frau Bergern,“ rief jetzt eine Knabenstimme aus dem Büdchen selbst, wo der älteste Sohn der Frau schlief, „lassen Sie sich doch keine Angst machen, das Fräulein ist ja fortgefahren mit dem Herrn, der manchmal zu Ihnen gekommen ist –“

„Ach, erbarme Dich!“ schrie Tante Polly, „wär’ sie doch lieber ins Wasser gegangen! Ach, ich armes Geschöpf! Nun werden die Eltern sagen, ich hätte sie in die Schande gejagt!“

„War’s denn ’ne Droschke?“ fragte die Hernicke ihren Sohn.

„Nein, eine feine Privatchaise war’s, und den Kutscher hab’ ich auch gekannt, der heißt Bormann und ist früher beim Fuhrherrn Lehrbeck gewesen, und jetzt dient er auf Sibyllenburg da draußen.“

„Sibyllenburg?“ stammelte Tante Polly, „Sibyllenburg? Wer wohnt denn da? Ich muß morgen hin – ist’s denn sehr weit? Wie komme ich denn da ’naus?“

Und nun beschrieben Mutter und Sohn umschichtig die Lage von Sibyllenburg und den Weg hinaus, und eines widersprach dem andern. Tante Polly wußte schließlich nur soviel, daß um acht Uhr ein guter Zug gehe und daß sie dann noch ein gutes

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