Seite:Die Gartenlaube (1891) 152.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


Stück zu Fuß wandern müsse. Und sie bat mit matter Stimme die „gute Hernicken“, sie solle sie doch nicht verlassen in dieser Nacht, denn sie sähe in allen Ecken so gräuliche Gestalten und sie könnte ja gar nicht ausdenken, was sie machen sollte, wenn die Hilde etwas Schlechtes gethan hätte und gar etwa nicht wieder mit her wollte.

Die gutmüthige Büdchenbesitzerin stieg auch richtig mit hinauf in die Wohnung der Frau Postsekretärin; die beiden würdigen Damen machten sich Feuer im Ofen und machten sich Kaffee, und die Hernicken erzählte der jammernden Bergern die unglaublichsten Geschichten von der Schlechtigkeit der heutigen Welt, von der Leichtfertigkeit der jungen Leute in so großen Städten. Dazwischen suchte sie warme Sachen zusammen für die Fahrt morgen früh, und Tante Polly weinte und klagte sich an und ihre Thränen fielen in die große Kaffeetasse, die sie mit zitternden Händen immer wieder an die Lippen brachte, obgleich sie vor Kummer kaum mehr imstande war, zu schlucken.

Um sieben Uhr früh gingen sie alle beide auf den Bahnhof. Die arme kleine Tante hatte rothe Augen vom Weinen und eine rothe Nase von der Kälte und sah so alt und vergrämt aus wie noch nie. Und wie sie so dahin fuhr in den kalten Weihnachtsmorgen hinein, da hielt sie im Muff die Hände gefaltet und bat den lieben Gott, er möge ihre Heftigkeit und Unduldsamkeit nicht gar zu hart strafen. Ja, sie hatte in ihrem Zorn gestern nicht bedacht, daß es so recht der Tag gewesen wäre, wo Liebe und Milde hätten walten müssen; unser Herrgott hat seinen sündigen Kindern das Heil gegeben, und sie selbst – so ein sündiges Menschenkind – hatte richten und strafen wollen, hatte vielleicht gar eine ihr anvertraute Menschenseele in lebenslanges Elend gebracht!

Aber wer konnte denn auch denken, daß sie gleich meinte, man wollte sie im Ernst nicht einlassen?

(Fortsetzung folgt.)




Die Noth der Weber in der Grafschaft Glatz.


An Schlesiens Südrand liegt, eingesprengt in das böhmisch-mährische Land, die Grafschaft Glatz, eine von Südosten nach Nordwesten sich erstreckende, von der Neisse durchflossene Hochebene, die fast ringsum von Gebirgen umschlossen ist; da liegen rechts der Neisse gegen Südost das Glatzer Schneegebirge und das Reichensteiner Gebirge und links der Neisse das Habelschwerdter und das Heuscheuer Gebirge, am nördlichsten Ende das Eulengebirge, sie alle ausgezeichnet durch landschaftliche Reize und deshalb auch viel besucht von dem Strom der Sommerfrischler.

Aber was immer wieder aus jenem Gebirgslande hinausdringt in die Welt, was seinen Namen vor jedem Ohre erklingen läßt und die Theilnahme des ganzen deutschen Vaterlandes für dasselbe wachruft, das sind nicht die entzückten Berichte empfänglicher Wanderer, nicht die stattlichen Fremdenlisten von Gasthöfen und Kurorten – es sind Nothschreie über Nothschreie, Hilferufe einer schwer leidenden, fast buchstäblich am Hungertuche nagenden Bevölkerung. Die Thäler jener nördlichen Randgebirge sind bewohnt von überaus armen Leuten, die sich zu einem großen Theil von der Handweberei nähren. Aber Ursachen, von denen unten noch die Rede sein soll, beschränkten und verkümmerten den ohnehin schon kärglichen Verdienst, immer wieder mußte das öffentliche Mitleid und werkthätige Menschenliebe den mit dem Gespenst des Hungers ringenden Webern beispringen – und auch heute ist es wieder so! Der dauernde Nothstand hat wieder einen Höhepunkt erreicht, der schnelle, ausgiebige Unterstützung erheischt, der aber auch von neuem die Gedanken ernstlich auf die Frage lenkt: wie ist das Uebel, das hydragleich immer von neuem wächst, an der Wurzel zu fassen, wo liegen seine tiefsten Quellen? Denn mit dem Sammeln und Spenden von Liebesgaben allein ist’s hier offenbar nicht gethan, hier müssen andere Mittel zur Heilung gesucht und gefunden werden!

Es ist auf eine Eingabe hin, welche die Weber des Eulengebirgs an den Kaiser richteten und in welcher sie ihre bedrängte Lage schilderten, die Untersuchung der Zustande in jenen Gebirgsthälern von berufener Seite in Angriff genommen worden. Inzwischen aber hat die „Gartenlaube“ es für ihre Pflicht gehalten, die Blicke ihrer Leser auf jenen traurigen Fleck menschlichen Elends zu lenken und ihrerseits das Mögliche zur Linderung der augenblicklichen Noth zu thun. Sie hat sich deshalb an einen Mann gewandt, der mitten unter der nothleidenden Bevölkerung lebt, ihre Verhältnisse durch und durch kennt, weiß, wo sie der Schuh drückt, und mit an der Spitze der praktischen Hilfsbewegung im Glatzer Lande steht, Herrn Pastor Ernst Klein in Reinerz. Sie hat sich an ihn gewandt mit der Bitte, eine wahrheitsgetreue Schilderung des Loses seiner Landsleute für die Leser der „Gartenlaube“ zu entwerfen, und in erfreulichster Weise hat Herr Pastor Klein dieser Bitte entsprochen. Wir geben ihm selbst das Wort, indem wir seinen Bericht hier folgen lassen. Er schreibt:

Einer Aufforderung der „Gartenlaube“ folgend, bitte ich dich heute, lieber Leser, mit mir in eine der schönsten und doch elendesten Gegenden unseres deutschen Vaterlandes, in der zur Zeit viele Thränen vergossen werden, viele Menschenseelen in Hunger und Kummer und Verzweiflung von einem Tage zum andern dahinleben, zu wandern.

Wir betreten eines der Weberdörfer, deren es in den nördlichen Randgebirgen der Grafschaft Glatz, im Eulen-, Heuscheuer- und Mensegebirge (dem nördlichsten Theil des Habelschwerdter Gebirgs) viele Hunderte giebt. Blasse, frierende Kinder kommen uns mit dem erwachenden Morgen entgegen, mit halbnackten Füßen waten sie durch den fußtiefen Schnee. Sie gehen zur Schule; noch haben sie nichts gegessen, wohl aber schon stundenlang gespult. In der Stube drin sitzt der Vater, fleißig über seine Arbeit gebeugt, der Webstuhl rasselt und klappert, das Schiffchen fliegt. Nun reißt der Faden – er wird geknotet mit einem tiefen Seufzer: „Ach, wenn der Garnausgeber den Fehler nur nicht bemerkt! Er hat solch scharfen Blick, er ist so streng jetzt; jüngst hat er uns zwei Mark vom Wochenverdienst abgezogen und dem alten Nachbar hat er für seine vierzehntägige Arbeit gar nichts gezahlt und ihm auch keine Arbeit mehr gegeben; das Geschäft, so sagte er, gehe jetzt zu schlecht, da könne er nur die besten Weber brauchen.“

Der Webstuhl rasselt weiter, die Mutter und Großmutter sitzen am Spulrad, die kleineren Kinder schreien, sie frieren, sie hungern. Der Mittag naht, die älteren Kinder kommen nach Hause, sie müssen die alte Großmutter ablösen, emsig geht die Arbeit weiter, endlich – 10 Tage lang dauerte sie – ist sie fertig. Der Vater geht bei sinkender Sonne zum Garnausgeber. Wie gut, daß er wenigstens nahe wohnt! Manche verlaufen sich auf dem Wege zu ihm und irren Stunden lang umher, kostbare Zeit! Doch, ach, der Herr Ausgeber ist jetzt nicht zu sprechen.

„Seien Sie schön gebeten, lieber Herr, wir haben nichts zu essen,“ fleht der Arbeiter.

„Kommen Sie morgen wieder, ich hab’ jetzt keine Zeit!“

Traurig geht der Vater heim, traurig hören die Seinen die Schreckenskunde. Am nächsten Morgen steht der Vater wieder vor dem gestrengen Herrn. „Zeigt die Arbeit her! Da ist ein Fehler, da wieder einer! Das Stück kann ich nicht brauchen! Seht, daß Ihr es wo anders verkauft und mir das Garn, das ich Euch dafür gab, bezahlt!“

Ja, wer wird das Stück kaufen? Lange läuft der Aermste umher, endlich bekommt er bei einem Kaufmann einige Groschen dafür, die kaum hinreichen, den Ausgeber zu befriedigen. Die angestrengte Arbeit einer Woche ist verloren! Und Frau und Kinder, was soll aus ihnen werden? Geh zum Krämer, sagt man dem Mann, borg bei ihm Brot, du kannst es ihm ja später abzahlen! Ja, wird er ihm aber auch borgen? Ach ja, er borgt –!

Klopfenden Herzens geht der Vater heim. Noch einmal ist der Hunger gestillt. Wie aber weiter? Der Weber läuft von Haus zu Haus; endlich, endlich findet er nach vielem Bitten bei einem neuen Herrn neue Arbeit. Doch die Bedingungen sind strenger, der versprochene Lohn niedriger als gewöhnlich!

Aber vielleicht läßt sich der Ausfall durch doppelten Fleiß einholen. Wieder rasselt der Webstuhl, rollt das Spulrad, von morgens

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_152.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)