Verschiedene: Die Gartenlaube (1891) | |
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Nr. 13. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
In ihrer lauschigen Stube saß Hilde und schrieb; das heißt,
sie hatte geschrieben und überlas jetzt nur noch einmal den Brief;
er war an ihre älteste Schwester gerichtet, die seit kurzem ihre
Vertraute geworden war. Die junge Malerin hatte sich sehr
verändert; ihr Gesicht war schmaler geworden, der Mund schien
das eigenthümliche, halb verächtliche, halb verbindliche Lächeln
nicht mehr lassen zu können, welches Leuten eigen ist, die sich
über die Thorheiten und Erbärmlichkeiten ihrer Mitmenschen
himmelweit erhaben fühlen und nur durch die Verhältnisse gezwungen
werden, ihre Ansichten für sich zu behalten. Sie hatte
etwas Beobachtendes, Abwartendes in ihrem Wesen, ihre Bewegungen
waren katzenhaft geschmeidig geworden, man erkannte
sie kaum wieder. Wenn Antje still geduldig war, so war sie
geradezu theilnahmlos in ihrem Verhalten. Fragte Leo sie, ob
sie spazieren gehen wolle, so erwiderte sie mit einem kurzen
„Gewiß!“ und marschirte tapfer neben ihm her. Sie war gerade
noch so höflich gegen ihn, daß es nicht zur Unart wurde; aber
diese Zurückhaltung, diese Kühle kleidete sie vortrefflich, denn aus
ihren dunklen Augen blitzte ein Feuer, das zu ihrem sonstigen
Verhalten einen seltsamen Gegensatz bildete. Sie wußte genau,
daß sie Leo damit quälte, beglückte, ärgerte, aber sie lebte so gelassen
dabei hin, daß jeder Mensch glauben mußte, sie ahne gar
nichts von den Stürmen, die sie heraufbeschwor. Und sie gestand
sich selbst kaum die Freude ein, welche ihr das bereitete.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_201.jpg&oldid=- (Version vom 6.8.2022)