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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„Nein! Nein!“ murmelte sie, „ich werde es überwinden!“ Und sie streckte die Hände wie abwehrend gegen ihn aus, als wollte sie sagen: „Es ist gut, sprich nicht mehr davon, sei barmherzig!“

Und sie ging die Treppe hinauf in ihr Stübchen und trat vor das Bild der Mutter. „Du wirst’s mir vergeben,“ flüsterte sie, die gefalteten Hände an ihren Lippen, „wirst’s mir vergeben, wenn ich nicht komme, ich kann doch nicht drei Menschen untergehen lassen um eines willen. Du hast ja Deinen Mann und Dein Kind auch geliebt, mehr als alles auf der Welt – Du wirst’s verstehen, daß ich auf meinem Posten bleibe.“

Und dann holte sie Papier und Tinte und schrieb zwei Depeschen, die eine an den alten Werkführer Kortmer daheim, die andere an Doktor Maiberg in Berlin, und die letztere lautete:

„Meine Mutter schwer erkrankt, ich nicht abkömmlich, könnten Sie hinreisen – sehr dankbar. Anna Jussnitz.“ 




Antje kam nicht zu Tische; auch Hilde erschien nicht wieder und blieb auf ihrem Zimmer.

So saß Leo allein an dem gedeckten Tisch, aber der Bissen quoll ihm im Munde. Schließlich ließ er das Essen und trank nur. Im tollen Wirbel drehten sich hinter seiner Stirn die Gedanken: seine Vermögensverhältnisse, das Börsenspiel, in dem er Antjes Heirathsgut ohne ihr Wissen riskirte, die Schwiegermutter, die ihm keineswegs gewogen war und ihn vermuthlich am liebsten auf Taschengeld gesetzt hätte. – Er hatte auch gar kein Glück! Schon vor Wochen hatte er dem Kunsthändler wieder ein Bild übergeben, ihm auch eine Aquarellskizze geschickt, aber bis jetzt war nichts verkauft, und ihm waren nie ein paar tausend Mark nöthiger gewesen als eben jetzt. Er hätte Hildens Bild schicken können, aber der Gedanke, sich davon trennen zu müssen, es irgend einem Kunstprotzen zu überlassen, der mit diesem Werke sein Zimmer auszierte und sich schmunzelnd die Hände rieb beim Anblick solcher Schönheit, trieb ihn in einen eifersüchtigen Zorn, der ihn beinah der Besinnung beraubte. Und dazu die angenehme Aussicht, daß die Schwiegermutter unversöhnt sterben könnte, schon den Notar hatte holen lassen, jedenfalls, um dem „leichtsinnigen Schwiegersohn“ gehörig die Hände zu binden, damit er nicht an das Kapital – –

Die Scene mit Antje – hätte er sie doch reisen lassen! Jetzt würde sie umhergehen, als sei sie die betrogenste, unglücklichste aller Frauen, würde ihn auf Schritt und Tritt eifersüchtig belauern, kalt wie Eis sein gegen das arme Mädchen, bei Tische mit unleidlicher Duldermiene dasitzen und – „kurz und gut, es ist zum Davonlaufen! Am gescheitsten thäte ich, heute noch nach Dresden zu fahren. – Wenn nur die Geschichte nicht wäre mit der kranken Schwiegermutter!“

Und nun wollte Antje nicht einmal hin! Lediglich aus Eifersucht. Einen Auftritt würde es heute abend noch geben, das wußte er genau, und es sollte auch einen geben, er wollte sich von ihr dazu reizen lassen – lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Und Hilde? Sie war von ihm gegangen ohne ein Wort, jeder Zoll eine beleidigte Königin. Er lachte bitter auf, nahm eine Cigarre und ging nach oben, seiner Frau eine „Scene“ zu machen. Er dachte sich, er würde sie finden mit dem Gesicht einer Märtyrerin, mit verweinten Augen und auf alle Fragen nur „Ja!“ oder „Nein!“ antwortend. Das eignete sich dann so prächtig zum Anfang, wenn er etwa sagen konnte: „Hör’ mal, liebes Kind, nachgerade habe ich nun dieses ewige Regenwetter satt! Wenn ich Dir denn gar nichts recht machen kann, wenn Du bei allem, was ich thue, etwas herausfindest, das Dich verletzt, so wollen wir ein Ende machen. Solch Leben halte ein anderer –“

In diesem Augenblick hatte er die Thür ihres Zimmers erreicht und öffnete sie. Sie saß am Schreibtisch und blickte nicht auf, so eifrig war sie mit der Feder beschäftigt. Erst als er dicht an sie herantrat, bemerke sie ihn und, die Feder in die linke Hand nehmend. reichte sie ihm die Rechte. „Verzeih, noch einen Augenblick, Leo, nur noch die Unterschrift, dann bin ich für Dich da.“

Sie hatte aufgesehen zu ihm. Ja, diese Augen, diese unergründlichen Augen waren noch voll Thränen, aber es brach ein so weher, ein so fragender Ausdruck unter den langen Wimpern hervor, daß er schlechterdings nicht zu seinem schneidigen Anfang kommen konnte. Er warf sich in einen Sessel und strich sich den Bart.

„Willst Du nicht weiter rauchen, Leo?“ fragte sie, sich umwendend, als sie bemerkte, daß er seine Cigarre weggelegt hatte, „Dir ist doch immer erst gemüthlich mit der Cigarre.“

„Danke!“ erwiderte er kurz.

„Sonst – ich habe es sehr gern, Leo, wenn Du rauchst.“

Er zuckte ungeduldig die Achseln. Er war auf alles gefaßt gewesen, nur nicht auf Freundlichkeit, und das reizte ihn jetzt unsagbar.

„Wie kommt es, daß das Kind noch wach ist?“ fragte er und wies nach der Thür, hinter welcher das Plappern der Kleinen erscholl, „und was hat die Alte aus der Küche hier oben zu suchen?“

„Die Maus wird öfter wach um diese Zeit, Leo,“ erwiderte Antje und klebte die Freimarke auf das fertige Schreiben, indem sie sich erhob. „Die Kinderfrau ist drunten im Dorfe und die Classen vertritt ihre Stelle so lange; das ist das ganze Geheimniß. – Wollen wir einmal zur Maus gehen, Leo?“

„Damit sie so recht aufgeregt wird und die ganze Nacht konzertirt – ich danke!“ erwiderte er.

„Ich glaubte, es mache Dir Freude, Leo; Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie drollig sie ist.“

„Hast Du die alten seidenen Kleider vorgesucht von Deiner Urgroßmutter?“ fragte Leo ausweichend. „Ich bat Dich schon vorgestern darum. Sie müssen anprobirt werden, falls noch etwas daran zu ändern ist.“

„Ja, Leo. Aber unter den jetzigen Verhältnissen denken wir doch wohl nicht mehr an das Kostümfest?“

„Nun, es wird sich ja alles historisch entwickeln! Im letzten Augenblick kann man keine Anzüge mehr beschaffen. Deine Mutter hat sicher wieder ein gastrisches Fieber infolge ihrer gediegenen Mahlzeiten, das ist alles; sie erholt sich schon bis zu dem Maskenball.“

„Gott gebe es!“ sagte Antje leise. Es klang so trostlos, daß er schwieg.

Es wollte sich noch immer kein Grund zum „Anfangen“ finden.

Sie nahm ihre Handarbeit und setzte sich aufs Sofa.

„Kannst Du denn nicht wenigstens die paar Minuten, die ich bei Dir bin, die Hände still halten?“

„Aber freilich – Leo! Ich dachte eben gar nicht daran, daß Du Häkeln nicht liebst.“ Sie legte die Arbeit in das zierliche Körbchen zurück und saß nun, die Hände im Schoß gefaltet, da.

„Sag’ mal,“ begann er, im Zimmer auf- und abwandernd, „wozu um alles in der Welt läßt Deine Mutter sich einen Notar holen? Sie hat ihr Testament doch schon lange gemacht! Will sie es ändern, oder was ist los? Sie wird Dich doch jedenfalls in ihre Pläne eingeweiht haben! – Wahrscheinlich wünscht sie mich ‚kalt zu stellen‘, wie man so sagt.“

„Ich kenne ihre Absichten nicht,“ erwiderte Antje.

„So? Nun, wie sie über mich denkt, weiß ich ja – ein Lump, ein Tagedieb u. s. w. – nicht wahr? Das ist so recht eigentlich auch Deine innerste Meinung, was? Du hättest eben eine gehorsame Tochter sein und Dich nicht an mich hängen, hättest Deinen braven soliden Vetter nehmen sollen, das wäre besser gewesen für Dich und für – –“

„Leo!“ unterbrach ihn ein schriller Aufschrei, „sprich das nicht aus – ich bitte Dich, nur das nicht!“ Antje war aufgesprungen, mit schreckensbleichem Gesicht, und ihre zitternden Hände faßten seinen Arm. „Für mich wäre es nicht besser gewesen,“ setzte sie hastig hinzu, „denn ich liebe Dich, aber – für Dich, Leo, das glaube ich jetzt auch – seit vorhin glaube ich es!“

„Seit vorhin? Wie so?“

„Leo, glaubst Du denn, ich sähe nicht, wie Dir Hilde –“

„Laß Hilde aus dem Spiel, ich bitte Dich dringend. Das sind einfach Hirngespinste.“

„Nein!“ sagte sie fest, „es sind keine Hirngespinste! Ich habe sie ja wachsen sehen, diese Neigung, unter hundertfältigen Qualen. Meinst Du denn, mein Herz sei ein anderes als das anderer Frauen? – Ich habe immer geglaubt, Du würdest – Du müßtest umkehren, Du müßtest Dich besinnen, aber Du –“

„Du meinst also, ich sei verliebt in Hilde?“ fragte er mit gekünstelter Ruhe.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_203.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)