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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

die Hilde von Zweidorf, die so streng geurtheilt hatte über jede ehrenwidrige Handlung, selbst schuldig geworden war? Und um was? Um eine getäuschte Hoffnung zu rächen, wie sie jeder einmal begräbt in seinem Herzen. Ach nein, das war ihre einzige Entschuldigung – sie hatte ihn lieb gehabt, so sehr lieb – – Um Gott, wenn der Vater es erführe, wenn die beleidigte Frau an ihn schriebe: „Ich kann Ihre Tochter nicht mehr unter meinem Dache behalten, weil sie ein Verhältniß mit – –!“

Sie fuhr empor wie von einem Peitschenhieb getroffen. „Es ist nicht wahr, Vater,“ schrie sie laut, „bei Gott, ich war nicht schlecht!“

Es regte sich etwas im Zimmer; Hildes Sinne verwirrten sich – mit einem gellenden Schreckensruf stürzte sie in die Kniee und starrte mit entsetzten Augen auf die Gestalt mit dem seltsam weißen Gesicht, die, vom dämmernden Zwielicht fahl beleuchtet, im Hintergrunde des Gemaches stand.

„Ich habe Sie erschreckt, Fräulein von Zweidorf! Wie mir das leid thut!“ sagte die freundliche Stimme Antjes. „Ich klopfte zweimal, aber Sie hörten nicht.“ Und sie bog sich hinunter, faßte die bebenden Hände Hildes und sah dem Mädchen in das Gesicht. „Sind Sie gar nicht zu Bette gegangen? Sie werden sich krank machen; legen Sie sich, ich will Ihnen Thee besorgen.“

Sie klingelte und wollte Hilde zu dem Bette führen, aber das Mädchen weigerte sich, indem sie die Hände vor das Gesicht schlug und stöhnte.

„Armes Kind!“ dachte Antje.

„Um Gotteswillen, seien Sie nicht gut zu mir! Schelten Sie mich – schlagen Sie mich – treten Sie mich mit Füßen!“ drängte es Hilde, zu schreien, aber was sie hervorbrachte, waren nur unverständliche Laute. Zitternd, wortlos umklammerte sie die Kniee der jungen Frau. Antje verstand sie.

„Aber so stehen Sie doch auf, Hilde,“ sagte sie mild, „ich weiß es ja am besten, wie lieb man ihn haben kann –“

Aber Hilde umklammerte Antje nur noch fester.

„Stehen Sie auf!“ wiederholte diese, „ich habe mit Ihnen zu sprechen.“

Jetzt richtete sich Hilde empor und blieb mit gesenktem Haupte vor Antje stehen, die gefalteten Hände an die Lippen gepreßt, das schöne Gesicht bleich wie der Tod.

„Ich habe eine Bitte an Sie,“ begann Antje, – „darf ich weiter sprechen?“

Hilde nickte.

„Ich muß in ein paar Stunden abreisen,“ fuhr die junge Frau in eigenthümlich stockender Sprache fort. „Ich werde längere Zeit fortbleiben müssen, weil – weil meine Mutter – schwer erkrankt ist – – Sie können nicht wohl allein hier sein – und deshalb bitte ich Sie, mich und die Kleine nach meiner Heimath zu begleiten.“

Hilde antwortete nicht. Antje hatte sich umgewandt, als blicke sie im Zimmer umher.

„Nein,“ sagte Hilde endlich heiser, „ich will – ich gehe ja – im Nothfall gehe ich wieder zu Tante Polly.“

„Thun Sie das nicht! Sie erweisen mir einen Gefallen, wenn Sie mit mir kommen – mehr als das – eine Wohlthat – Ich weiß, das werden Sie mir heute nicht abschlagen, das können Sie nicht!“

„Ist Ihnen meine Gegenwart eine Wohlthat?“ Hilde lachte gezwungen und strich sich das Haar aus der Stirn. „Allerdings kann ich heute Ihnen keinen Wunsch versagen,“ fuhr sie fort, „aber – –“

„Fragen Sie nicht,“ bat Antje, „packen Sie Ihre Sachen, um elf Uhr reisen wir, sobald mein – sobald Leo in die Stadt gefahren ist.“

Sie drückte Hildes Hand und verließ das Zimmer. Gleich darauf trat sie noch einmal herein. Sie mußte unmittelbar vor der Thür umgekehrt sein. Hastig, eine dunkle Röthe auf den Wangen, sagte sie: „Wenn Sie Leo noch einmal sprechen wollen, so benachrichtigen Sie ihn bald; er fährt noch im Laufe dieses Vormittags nach Dresden.“

Hilde richtete sich stolz in die Höhe. „Ich habe Ihrem Herrn Gemahl nichts zu sagen,“ erwiderte sie.

Antje sah sie traurig an; es war, als habe sie eine Antwort auf den Lippen, aber sie bezwang sich. „Auf Wiedersehen denn,“ nickte sie. –00

Der erste Sonnenstrahl, der sich durch die Fenster des Sibyllenburger Schlößchens stahl, traf lauter geschäftiges eiliges Treiben. Die Classen stand vor ihrer Herrin und hielt den Schlüsselkorb, den unzertrennlichen Gefährten Antjes, in den Händen.

„Ich weiß ja, Classen, Du versorgst den Haushalt so gut, als wär’s Dein eigener,“ lächelte Antje matt. „Mach’s nur dem Herrn so behaglich, als Du kannst, das Wiederkommen liegt in Gottes Hand, liebe Classen – wer weiß, wie es daheim aussieht.“

„Es muß sich doch bald zeigen, ob’s zum Guten oder Bösen hinauswill, gnä’ Frau,“ meinte die Alte. „Will’s Gott, sind Sie in vier Wochen wieder daheim. Ich kann es mir schwer denken ohne Sie, wenn ich auch alles thun will. ’S wird just so sein bei uns als wie in einer Stube, wo sie die Lampe hinaus getragen haben, wenn der Wagen mit Ihnen und dem Kind davon gefahren ist. Aber, gnä’ Frau, wollen Sie nicht frühstücken, mit dem Herrn? Er ist eben hinunter in den Saal.“

„Ich habe ihm schon Lebewohl gesagt, Classen.“

„Liebe Zeit, gnä’ Frau, wie blaß Sie aussehen; aber das kommt vom Eigensinn. Sie haben so ein jammervolles Lager die Nacht gehabt.“

„Classen, ich hab’ von dem Augenblick an, als ich gestern abend wieder zu mir kam, bis heute früh geweint. Soll ich den Herrn nun auch noch stören? ’S ist besser, man ist allein mit seiner Angst und seinem Kummer.“

„Es wäre freilich ein Unglück, wenn der mal ’ne Nacht nicht schliefe!“ dachte Frau Classen grimmig und betrachtete das schmale unbequeme Sofa, auf dem ihre junge Herrin die Nacht verbracht hatte. Dann fügte sie laut mit einem tiefen Seufzer hinzu: „Na, ich will ihn schon versorgen; seine Leibspeisen kenne ich ja alle, reisen Sie ruhig, gnä’ Frau. Ginge am liebsten selbst mit als Kinderfrau –“

Und sie wandte sich schluchzend ab und ging mit Antjes Schlüsselkorb die Treppe hinunter in ihre Küche; dort stellte sie ihn in den Schrank hinter die blinkenden Glasscheiben, und mit dem Schürzenzipfel die Augen trocknend, meinte sie, es sei ihr gerade so, als müsse ein großes Unglück über dieses Haus kommen.

Antje hatte sich, völlig gebrochen, in ihr Zimmer eingeschlossen; sie hatte die Kleine mit der Kinderfrau hinuntergeschickt, damit sie dem Papa Adieu sage. Dumpf und verworren war’s ihr zu Sinne, und sie fühlte einen stechenden körperlichen Schmerz in der Gegend des Herzens; der Schlag des armen gemarterten Dings war so unregelmäßig wie das angstvolle Flattern eines gefangenen Vogels. Sie dachte, er müsse kommen, das Kind auf dem Arm; er müsse sagen: „Es ist ja nicht möglich, Antje, daß Du gehst, auf immer gehst – bleib hier!“

Aber das konnte er ja nicht! Es wäre Heuchelei. Lüge gewesen – er liebte sie ja nicht. Er hätte es ja damit nur zu einer Fortsetzung des elenden Lebens neben ihr gebracht. Nein, er konnte sie nicht halten und sie – konnte nicht bleiben, es war alles vorüber!

Dann fuhr sie jäh empor; das Stimmchen der Kleinen erscholl auf dem Gang. Ihr schwindelte vor Angst, ihn wiederzusehen, ihr graute vor der Qual des Abschieds, und dennoch – ach, es war nur die Kinderfrau.

„Gnädige Frau, kann die Kleine ein paar Minuten bei Ihnen bleiben?“ fragte sie, „ich möchte mir doch rasch meine Sachen packen.“ Und sie setzte das Kind zur Erde und schob es der Mutter zu.

„Mama, hopp!“ sagte die Kleine.

Antjes zitternde Hände nahmen das leichte Körperchen empor. „Maus,“ stammelte sie, „Papa hat Dir Küßchen gegeben? Was hat er gesagt?“

„Papa nichts gesagt,“ antwortete die Kleine.

„Der Herr hat ihr das Patschhändchen geküßt,“ rief die Wärterin, die noch unter der Thür stand, zurück, „ich glaube, er war sehr eilig.“

Antje heftete ihre brennenden Augen auf das Kind und zog die kleine Hand an ihre Lippen. „So leicht wird’s ihm, Maus, so leicht?“ flüsterte sie.

Da sah sie auf dem blaßblauen Schleifchen, das den Aermel des Kindes an dem winzigen Handgelenk schmückte, einen dunklen Fleck. „Vielleicht doch eine Thräne um Dich, Du armes kleines Würmchen? Es muß eine Thräne sein, sonst hätte er ja gar kein Herz! Das Schleifchen hebt Mama Dir auf; wer weiß, ob

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_222.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)