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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Nr. 15.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.
(14. Fortsetzung.)

Man hatte für Antje das Zimmer neben der Krankenstube der Mutter hergerichtet, dasselbe, in dem ihr Vater einst geschlafen hatte und in dem er gestorben war. Die braune Flügelthür, welche die zwei Gemächer verband, stand offen. Antje winkte der Wirthschafterin, zurückzubleiben, schlich sich über den Teppich bis zu dieser Thür, und dort stand sie und lauschte zu dem Himmelbette hinüber, in dem die Mutter lag; der schwache Schimmer der Nachtlampe ließ sie nur undeutlich die Züge der Schlummernden erkennen. Sie mußte sich zwingen, daß sie nicht hinüber lief und vor dem Bette dort niedersank, daß sie nicht schrie: „Mutter, Mutter, da bin ich ja wieder! Ach, wenn Du wüßtest, wie weh mir geschehen ist, wie weh!“

Sie schluchzte plötzlich auf. Die alte traute Heimath, die Erinnerungen, die so mächtig auf sie eindrangen, die Größe ihres Schmerzes um das, was sie verloren hatte, die Angst um das, was sie noch verlieren sollte, das alles zusammen überwältigte sie. Ein Gefühl grenzenloser Schwäche ergriff sie, sie sank zu Boden und wußte nicht mehr, wie ihr geschah. In halber Bewußtlosigkeit hörte sie das Rütteln des Sturmes an den Läden, das Rauschen des Regens, wie sie es als Kind so oft gehört hatte in ihrem weichen warmen Bettchen, das neben dem der Mutter stand – wie sie es gehört in den ersten schlummerlosen Nächten ihres jungen Mädchendaseins, jenen Frühlingsnächten, da sie meinte, sie könne niemals wieder froh werden, sie vermöge nicht zu leben ohne jenen blasiert kranken Mann, der ihr gesagt: „Ich glaube, Sie könnten mich wieder versöhnen mit dem Dasein –“ in jenen Nächten, wo sie sich auf den Wunsch des Vaters mühte, den Geliebten als ewig verloren zu betrachten, und dann – in den schlummerlosen heiligen Nachtstunden, in denen das Glück ihr den Schlaf raubte, das Glück, ihn zu besitzen.

Es war ihr, als erlebte sie das alles noch einmal. Sie hörte den Pendelschlag der Wanduhr, das dumpfe Pochen der Hämmer drang in ihr Träumen hinein: sie hörte den schweren Athem der Mutter und hielt den ihrigen an, um sie nicht zu wecken. Es war so schön, so wohlig, so geborgen in dem hohen Zimmer.

Auf einmal ist es ihr, als sei es wieder der Vorabend ihres Hochzeitstages. Liegt da nicht ihr Brautkleid? Im Ofen glimmen die Kohlen – es wird schon kalt hier oben in den Bergen – und die Mutter ist eben noch einmal leise in ihre Stube gekommen und hat sie geküßt, und sie hat sich nicht gerührt; sie hat sich schlummernd gestellt, um der Mutter nicht zu zeigen, wie glückselig sie ist darüber, daß sie morgen mit dem fremden Mann fortziehen darf, weit fort von der Heimath. Und die Mutter weint an ihrem Lager und betet; sie hört es so deutlich, aber die Stimme ist klagend und schwach, wie das Stöhnen aus kranker Brust.

Muß ich denn unglücklich werden, Mutter?“ fragt Antje.

Glücklich zurück!
Nach einer Zeichnung von M. Laux.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_241.jpg&oldid=- (Version vom 6.8.2022)