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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Wie Keulenschläge fielen diese Worte; die Köpfe der Menge beugten sich darunter, die Gewissen erwachten – der Abgrund gähnte, den ein verführerischer Nebel bisher verdeckt hatte.

Die Zeugenaussagen gegen Stefanelly waren erdrückend, ein häßlicher Knäuel von Lüge, Betrug, Fälschung, gewissenlosem Wagniß entwirrte sich. Wie Schuppen fiel es von den Augen aller der Geblendeten.

Dann erzählte der Aufsichtsrath Brennberg in schlichten Worten seinen Weg von dem einsamen Schönau bis in diesen Gerichtssaal, den er willenlos gegangen sei unter der zwingenden Macht Stefanellys; er schilderte, wie ihn nach einem arbeitsvollen einsamen Leben allmählich in seinen alten Tagen die entnervende Luft der Großstadt förmlich vergiftet und zu Grunde gerichtet habe, schilderte die qualvollen Nächte, in denen er mit sich gerungen habe und doch unterlegen sei, schilderte alles das in Worten, die mächtig zu seinen Hörern sprachen.

Ja, diese giftdurchtränkte Luft hatten sie alle eingeathmet, die Menge hier auf den Bänken und draußen auf der Straße, die Geschworenen, die Richter – alle – alle!

„Ich habe ernten wollen, ohne zu säen, ich, ein Mann, der dreißig Jahre die Scholle seiner Ahnen bebaut hatte, der aus dem Gleichniß der Natur erkennen mußte, daß dies nicht möglich sei, daß es mit rechten Dingen dabei nicht zugehen könne. Keine Strafe wird mir zu schwer sein, um zu sühnen, was ich gethan habe.“

So schloß der alte Baron seine Rede.

Ein jäher Sturm brach los im Zuhörerraum, Schluchzen, Weinen, beifällige Zurufe. Wie eine Erlösung aus unheimlichem Bann klangen die Worte, wie die Verheißung einer besseren Zukunft. Der Präsident selbst fühlte die Heiligkeit dieser Erregung und ließ sie austoben.

Berthas schwer belastende Aussage gegen Loni wurde vernommen, der vorgebliche Diebstahl unter den Füßen der sorglos tanzenden Gäste im Prunksaal Stefanellys: wieder ein furchtbar erschütterndes, bedeutungsvolles Bild.

Zwei Gärtnerstöchter von der Landstraße, zwei Nachbarskinder, standen sich da gegenüber, die auch der Zeitgeist hineingetrieben hatte in die Stadt aus ihren friedlichen Häuschen und ihrem friedlichen Thun. Die eine hatte sein Hauch längst durch und durch vergiftet, die andere hatte ihm siegreich widerstanden, war gesund geblieben an Geist und Leib. Alles blickte erquickt auf das blühende Weib, das unbeirrt, seines eigenen Vortheils nicht achtend, für die Wahrheit und die Unschuld eingetreten war und der Schlange des Trugs auf den Kopf trat. Es war, als ob ein freundliches, hoffnungsvolles Licht von ihr ausginge in dem düstern, schwülen Raum.

Die Vertheidigung hatte einen schweren Stand. Das Urtheil lag in der Luft, auf jeder Lippe, es war unabänderlich. Sie konnte sich nur auf einzelne Milderungsgründe beschränken, jeder Versuch, psychologische Spitzfindigkeiten anzubringen, wurde, trotz aller Mahnung des Präsidenten zur Ruhe, im Publikum mit Hohn aufgenommen.

Das Gewissen des Volkes war erwacht und saß selbst mit zu Gericht.

Stefanelly wurde als der Hauptschuldige unter gebührender Würdigung seines ganzen, auf Lug und Trug gerichteten Gebahrens, namentlich der nichtswürdigen Abwälzung des Verdachts auf einen völlig Schuldlosen, wegen gemeinen Diebstahls von Kassengeldern zu fünf Jahren Gefängniß verurtheilt und aller Ehren verlustig erklärt; Loni und Hans erhielten aber wegen Theilnahme an diesem verbrecherischen Treiben eine dreijährige Gefängnißstrafe; Brennberg wurde zwar eines in Gemeinschaft mit Stefanelly begangenen Kassendiebstahls für schuldig befunden, jedoch unter Berücksichtigung der mehrfachen ihm zur Seite stehenden Milderungsgründe, namentlich auf Grund der Annahme, daß er die veruntreuten Gelder aus seinem allerdings nun gleichfalls verlorenen Vermögen zu ersetzen beabsichtigte, nur mit sechsmonatigem Gefängniß bestraft.

Mit lauten Zurufen wurde dieser letzte Satz des Urtheiles begrüßt.

Dem Baron drangen diese Kundgebungen tief ins Herz und ein Thränenstrom brach ihm aus den Augen.

Er fühlte es, hier erhob der Geist seine Stimme, der sich immer wieder Bahn bricht, der Geist der Gerechtigkeit und der Wahrheitsliebe, der Sieger über die verhaßten Truggeister. – Erst als die schmale Thür, die zu den Haftlokalen führte, sich hinter den Verurtheilten geschlossen hatte, leerte sich der Saal lautlos, ohne Gedränge.

Auch die Menge vor dem Gebäude verzog sich wider Erwarten ruhig, das Urtheil lastete auf jeder Brust. Der Staatsanwalt hatte wahr gesprochen: sie alle hatten heute vor dem Richterstuhle gestanden.

*  *  *


Nach sechs Monaten hielt gegen Abend ein Wagen vor der Stadtvogtei, in welcher Christian seine Strafzeit verbüßt hatte. Ein Kommissar meldete eben dem Freiherrn den Ablauf derselben mit dem Hinzufügen, zwei Herren und eine Dame erwarteten ihn.

Es war für Christian eine harte Zeit gewesen voll bitterer Selbstvorwürfe, Angst für die Zukunft und Kummer für seine Kinder, aber auch eine Zeit ernster Einkehr in sich selbst, völliger innerer Heilung.

Eine erschütternde Nachricht war für ihn die Kunde von der Geburt eines Enkels, eines Stammhalters gewesen. Früher hatte er sich dieses süße Glück gar nicht zu träumen gewagt, jetzt ward es ihm zu Theil, während er im Gefängniß saß, und er durfte sich nicht einmal darüber freuen. Der Name Brennberg war ja durch ihn befleckt, entehrt, dem Elende preisgegeben, und was er einst ersehnt hatte, erschien ihm jetzt wie ein Fluch. Dann aber kamen wieder Stunden, wo er den Knaben wonnetrunken in seinen Armen sah, auf seinen Knieen schaukelte auf der Terrasse von Schönau, den künftigen Erbherrn – und furchtbar war dann das Erwachen, wenn die Kerkermauern, welche die erhitzte Phantasie gesprengt hatte, sich wieder schlossen vor dem beseligenden Bild.

Jetzt, wo sich dem Gefangenen die Thür zur Freiheit öffnete, traten wieder dunkle Schatten vor seine Seele. Welchem Leben ging er entgegen? Einem Leben der Schande, der Noth vielleicht. Warum hatte ihn der Tod nicht erlöst, ihn, der jetzt nur eine Last war für seinen durch ihn ruinirten Sohn? Der Herr von Brennberg auf Schönau trat aus der Stadtvogtei an das Licht des Tages und starb nicht vor Scham! Und doch kamen sie, ihn abzuholen, Theodor und Bertha! Sie haßten ihn also nicht, sie hatten ihm gewiß alles vergeben und er durfte sein Enkelkind in die Arme schließen! –

Aber der Kommissar hatte doch von zwei Herren gesprochen! Wer konnte nur dieser zweite sein? Freund oder Feind? Lauerte vielleicht ein neues Unglück auf der Schwelle.

Christian schwindelte es fast, als er die Treppe hinunter stieg. –

Da streckte ihm auf halbem Weg ein Mann beide Arme entgegen.

„Margold! Du!“ rief der Freiherr aufjauchzend. „Das ist ein gutes Zeichen, jetzt hoffe ich wieder!“

Und die beiden Männer umarmten sich schluchzend, dann gingen sie hinab, wo Theodor und Bertha ihrer harrten.

Schweigend stieg man in den Wagen. Die Bewegung war in allen zu groß für Worte. nur die Thränen sprachen, die zitternden sich pressenden Hände.

„Wohin denn?“ fragte der alte Herr von Brennberg, als der Wagen sich in Bewegung setzte. Er wußte, die Brennburg war längst verkauft.

„Nach Hause,“ sagte Margold.

„Nach Hause!“ wiederholte Christian herb.

Der Wagen fuhr durch die Stadt, über die bereits ein schwüler Augustabend sich herabsenkte. Das toste und brauste wie vor einem halben Jahre, als wäre nichts geschehen; über die Opfer der Katastrophe spann das rastlose Leben schon längst eine neue bunte Decke.

Jetzt ging’s durch eine Vorstadt: da grinsten vorwurfsvoll die leeren Fensterhöhlen unvollendeter Häuser. Die Spinne hatte ihre Fangarme zu weit ausgestreckt, der Lebenssaft fehlte ihr, sie mußten verdorren.

Der alte Baron empfand eine geheime Schadenfreude über das verstümmelte Ungeheuer und vergaß darüber ganz, zu fragen, wohin denn eigentlich die Fahrt gehe.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_270.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)