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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Hütten der Darbenden bringe. Der Aufruf beruhte neben der persönlichen Erfahrung des Pfarrers auf Angaben der Ortsvorsteher der betreffenden Gemeinden selbst, der Kern seines Inhalts fand die Bestätigung der Regierungsbeamten des „Kreises“, und das Landrathsamt in Glatz setzte, ganz wie auch das von Neurode am Eulengebirg, Nothstandskommsssionen ein, deren Mitglieder unter Führung des Landraths einen amtlichen Aufruf im Amtsblatt des Kreises mit der Bitte um Hilfe erließen.

Was war auch natürlicher, als daß die Regierung, ohnehin schwer belastet von der Sorge um die Beseitigung des chronischen Nothstandes, die Stillung der akuten Noth der Privatwohlthätigkeit überließ!

Da – gerade als der Aufruf des Pastors Klein in der „Gartenlaube“ erschienen war, änderte sich auf einmal das Bild. Die kurz vorher von den Behörden selbst angerufene Wohlthätigkeit weiterer Kreise wurde in einer Konferenz beim Handelsminister, welcher verschiedene schlesische Landtagsabgeordnete und der Regierungspräsident aus Breslau anwohnten, als „entbehrlich und bedenklich“ bezeichnet, da eine über das Bedürfniß hinausgehende Unterstützung nur „demoralisirend“ wirken könne. Die in die Presse gelangten Schilderungen der stellenweise ja vorhandenen Nothstände seien zum Theil übertrieben. Am 10. März aber erschien dann von dem Kommunalarzt in Reinerz in einem Berliner Blatt eine Erklärung, welche jede Art akuten Nothstandes in der Gegend in Abrede stellte, ja behauptete, daß es den armen Webern daselbst „von Jahr zu Jahr immer besser gehe“. Die Erklärung gipfelte in der Aussage, daß Pastor Klein durch eine „wilde regellose Armenpflege“ mehr Schaden als Nutzen gestiftet und in Kreisen, wo bisher Zufriedenheit und Arbeitslust geherrscht, „Unzufriedenheit und Begehrlichkeit“ geweckt habe. Diese Erklärung ist dann durch den offiziösen Telegraphen in einer Form verbreitet worden, die ihr den Schein eines amtlichen Charakters verlieh. Welche Anschuldigung für alle die Blätter, welche den Aufruf des Pfarrers verbreitet, Gelder für seine „wilde“, „regellose“ und „demoralisirende“ Hilfsthätigkeit eingesammelt hatten! Das hehre Amt der Presse, in Nothstandsfällen, die schnelle Hilfe fordern, den Nothschrei der Bedrängten nach allen Richtungen zu verbreiten, dem guten Willen der weit zerstreut wohnenden Menschenfreunde sich als Vermittler darzubieten, war hier in verletzendster Form in seinem Ansehen getrübt! Aber wie viel sprach doch auch für die Unberechtigtheit der Anschuldigung! Hatten nicht die berufensten und angesehensten Männer der Gegend einen Monat vorher selbst einen amtlichen Hilferuf unterschrieben? Da hieß es: selbst zuschauen und prüfen, der Wahrheit der Thatsachen festen Blickes auf die Spur zu gehen.

In frühen Jahren – auf meiner ersten Reise von Dresden ins Riesengebirge – bin ich auch zum ersten Male in Berührung mit dem schlesischen Weberelend gekommen. Der uns begleitende Lehrer wollte uns einen Begriff geben von der altehrwürdigsten aller Hausindustrien, die schon im Alterthum die gefeierten Königinnen der homerischen Heldensage geübt. Wir überraschten die blassen armen Leute bei ihrem Mittagessen. „Haben die fleißigen Weber nichts besseres zu essen als Mehlsuppe?“ frug ich erregt beim Verlassen der Hütte. – „Mehlsuppe oder Kartoffeln – einen Tag wie den andern.“ – „Nie Fleisch?“ – „Das mögen sie gar nicht.“ – „Sind die aber arm!“ – „Freilich – arm. Aber das war immer so. Das ist eben das Schicksal der Weber ...“

Heute bildeten Schriften und Aufsätze, die dem Ernst meiner Sendung entsprachen, meine Gesellschaft auf der Fahrt über Görlitz nach Glatz. Untersuchungen über die Ursachen der Webernoth, Vorschläge zu ihrer Bekämpfung, Rückblicke auf ihre Geschichte, das vortreffliche Buch von A. Zimmermann: „Blüthe und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien“. Und seltsam – auch hier kehrte der Bescheid bei Besprechung der Verbesserungsversuche wieder: „Das war immer so; das ist eben das Schicksal der Weber!“

So oft seit dem Untergang der Blüthe des schlesischen Leinwandhandels durch die Kontinentalsperre die schon damals vorhandene Armuth der Handweber im Gebirge den Charakter eines akuten Nothstands annahm, tönte es vom Regierungstisch zurück: Das ist keine akute Erscheinung, die Noth ist eine chronische. „Sie war immer so – das ist eben das Schickal der Weber!“ So war schon 1793 das Ergebniß der Versuche des Ministers von Struensee, den Nothstand zu bekämpfen: die Resignation. Als 1819 die Einführung des mechanischen Webstuhls aufs neue einen akuten Nothstand erzeugte und die Nachricht davon die Aufmerksamkeit in Berlin erregte, da hatte der Regierungspräsident in Breslau nichts anderes zur Antwort, als die Ableugnung des akuten Nothstands, da derselbe chronisch sei – „das ist eben das Schicksal der Weber.“ 1844 war das Elend so arg, daß der Hungertyphus auftrat, selbst der saure Mehlkleister, den die Weber zum Anfeuchten des Garns als „Schlichte“ benutzen, wurde damals von Hungrigen aufgezehrt. Als Wohlthätigkeitsvereine entstanden, die schlesische Webernoth zum erstenmal in allen Blättern Deutschlands erörtert wurde und der König von Preußen aus eigenen Mitteln 10000 Thaler zum Hilfsfonds beisteuerte, war die Erklärung der Provinzialverwaltung: es sei auch jetzt nur der allbekannte unverbesserliche Nothstand; man müsse die Weber sich selbst überlassen und die Wohlthätigkeitsvereine unterdrücken – „das ist eben das Schicksal der Weber!“ In jenem Jahre, als der freiheitliche Zug der nationalen Entwickelung auch Luft und Licht in die Versumpfung des „chronischen Nothstands“ zu bringen begann, als der Geist, der in Frankfurt ein nationales Parlament erstehen ließ, welches die Grundrechte des deutschen Volkes berieth, selbst in die schlaffen Webergemüther im Eulengebirge fuhr, da begleitete Ferdinand Freiligrath die Bewegung mit jenem herzergreifenden Gedichte, das uns einen armen Weberjungen vorführt, der in seiner Verzweiflung den Schutzgeist des Riesengebirgs, Rübezahl, beschwört, daß er – der Freund der Armen und Bedrängten – den brotlosen Eltern helfe. Heute wissen wir, daß die Lage der Handweberei im Riesengebirge, in den Gegenden von Waldenburg und Schweidnitz, wo sich, belebt vom Eisenbahnverkehr und dem ergiebigen Steinkohlenbergbau, eine große Fabrikindustrie entwickelt hat, die von der schlichten, billigsten Leinenherstellung längst zu komplizierten Woll- und Baumwollwebereien übergegangen ist, ganz andere wirthschaftliche Bedingungen hat als die armseligen, weltabgeschiedenen Weberdörfer der Grafschaft Glatz, die mit ihren rastlos arbeitenden Webstühlen oft meilenweit von dem nächsten Industrieort, der ihnen Beschäftigung giebt, und von der nächsten Eisenbahnstation gelegen sind.

Auch längs der Bahn, die zwischen Dittersbach und Waldenburg abzweigt und, über Neurode, Glatz, Habelschwerdt, Mittelwalde führend, die Grafschaft in zwei Hälften theilt und mit Oesterreich bei Grulich verbindet, sieht man aller Orten nicht nur an neuen großen Fabrikanlagen, sondern auch am Aeußern vieler Privatwohnungen, daß hier in Wechselwirkung mit dem endlich seit zehn Jahren durch die Bahn vermittelten Verkehr sich ein Wohlstand entwickelt hat, welcher der ganzen Gegend mit ihren malerischen, zwischen Waldbergen eingebetteten Thälern und Mulden ein lebensfreudiges, farbiges, einladendes Gepräge giebt. Wer hier den mit Recht berühmten Quellenbädern der Landschaft entgegenfährt, den Sinn erfüllt von den Reizen ihrer geschützten Lage inmitten dichtbewachsener Waldberge, dem wird es kaum denkbar erscheinen, daß auf den halb aufgerodeten Abhängen und im Hinterland dieser Berge tausende von Menschen wohnen, die bei angestrengtestem Fleiß zu einem beständigen Kampf mit der drückendsten Noth verurtheilt sind. Die Hauptstadt Glatz, unser nächstes Reiseziel, mit den die Neisse beschattenden malerischen Resten ihrer einstigen Festungswerke macht gleichfalls keinen ärmlichen Eindruck. Von hier öffnet sich das Thal der Wilden Weistritz, in welches nunmehr meine Fahrt einlenkte, denn in ihm liegen außer den waldumhegten trefflichen Kurorten Reinerz und Cudowa abseiten der Straße all die Ortschaften, in denen das Weberelend diesen Winter, chronisch wie es schon ist, zum Theil jene außerordentliche Höhe erreicht haben sollte, über welche sich der merkwürdige unwürdige Wortstreit entsponnen hat, ob der Nothstand die Bezeichnung als „akuter“ verdiene oder, weil er „nur chronisch“ sei, keinen Anspruch auf die private Wohlthätigkeit habe.

Kolossale hochstämmige Forsten, meist königliches Dominium, haben im engeren Verlauf des Thales der um Glatz herum blühenden Landwirthschaft hier von alters her wenig Raum gelassen. Der Bergbau auf Eisenerz, einst um Reinerz mit Erfolg betrieben, hat seit Jahrhunderten keine Pflege mehr gefunden. Die riesigen Sandsteinflötze des Heuscheuergebirges – Millionen an Werth in herrlichstem Baumaterial – sind bis vor kurzem fast unberührt geblieben und ihre Verwerthung, zum Theil zu nichts geringerem als dem Ausbau des deutschen Reichstagsgebäudes bestimmt, hat erst seit Anfang des Jahres sich eines einigermaßen nahen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_272.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)