Seite:Die Gartenlaube (1891) 274.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Verladungspunkts für den Eisenbahnversand zu erfreuen. Die seit Dezennien als nothwendig erkannte, seit zehn Jahren in Vorbereitung befindliche Bahn, die Glatz über Rückers, Reinerz, Lewin und Cudowa mit der böhmischen Grenzstadt Nachod verbinden soll, ist nämlich im Laufe der letzten vier Jahre glücklich bis zu ersterem Ort fertig gestellt worden und in Erwartung ihrer Fortsetzung hat die Industrie bereits in den genannten Städten einen bedeutenden Aufschwung genommen.

Nur eine Industrie, aber freilich gerade diejenige, welche bei weitem die Mehrzahl der Bewohner der Gegend beschäftigt, hat sich dieser belebenden Wirkung noch nicht zu erfreuen gehabt: eben die Handweberei. Sie ist gerade im letzten Jahre wieder bedeutend zurückgegangen, wie ich nicht nur aus dem Munde vieler armen Handweber selbst, sondern auch aus demjenigen verschiedener Garnausgeber, die ich Auge in Auge darüber befragte, sowie aus Rundschreiben und Erklärungen gerade solcher Größindustrieller gehört und ersehen habe, welche, wie sie sagen, in der Gegend „längst nur noch aus Mitleid“ haben arbeiten lassen, da die mechanische Herstellung ja viel billiger sei. Auch in den Protokollen der Nothstandskommissionen, die ich einsehen durfte, und von erfahrenen Orts- und Amtsvorstehern, die ich aufsuchte, fand ich diese Hauptursache der Noth bestätigt. Am besten unterrichtete mich über diese allgemeinen Verhältnisse aber der langjährige Bürgermeister von Reinerz, Herr Dengler. Nicht mündlich, denn heute steht derselbe auf dem die akute Hilfsbedürftigkeit ableugnenden Standpunkt, wohl aber durch eine Denkschrift über die Nothwendigkeit der Eisenbahnlinie „Glatz-Reinerz-Nachod“, die er auf Grund seiner damals schon siebenjährigen Erfahrung in seinem Amt bereits vor sieben Jahren geschrieben hat. In dieser wird von der Textilindustrie der Landschaft offen eingestanden, daß sie in fortwährendem Niedergange begriffen sei und ihre Lage von Jahr zu Jahr schlechter werde. „An eine Besserung ist nicht mehr zu denken und seit Elsaß-Lothringen unserem Vaterlande einverleibt ist, kann der hiesige Weber, der nur die gewöhnliche Arbeit gelernt hat, überhaupt nicht mehr aufkommen.“ Als auch die anderen Webergegenden der Grafschaft noch keine Eisenbahn besaßen, da sei auch in seinem Bezirke die Fabrikation baumwollener Waren und leinener Stoffe durchweg selbständig gewesen. Es konnten die Fabriken in Rückers und Gellenau z. B. mit Langenbielau, Reichenbach, Waldenburg konkurriren. Dort seien seitdem neue Färbereien, Druckereien, Bleichen, Appreturanstalten entstanden, hier seien sie eingegangen. Die damals selbständigen Fabrikanten und Geschäftsleute seien jetzt Agenten, Kommissionäre, „Garnausgeber“ geworden, die mit den Handwebern in den Dörfern als Mittelsleute verkehren. „Dem Fabrikanten ist es nicht zu verdenken, daß er für die näher wohnenden Weber besser sorgt, als für die entfernten, ihm nicht bekannten, die er durch einen Dritten beschäftigen läßt. Dabei aber giebt er die guten Garne den Arbeitern seiner Fabrik und die schlechten den Handwebern, weil die Maschinen schlechte Garne nicht leiden.“ Kurz, alles, was von Pastor Klein in seinem Aufruf in Nr. 10 der „Gartenlaube“ von den wirthschaftlichen Nothständen in den Weberdörfern um Reinerz behauptet und dem dann von anderer Seite in so bedenklicher Form entgegengetreten worden ist, hat der soeben nach fünfundzwanzigjährigem Stadtregiment zum drittenmale feierlich neu eingesetzte Bürgermeister von Reinerz schon vor sieben Jahren – nur auf Grund reicherer Erfahrung, eingehender und mit schärferen Ausdrücken – im Interesse der Gegend drucken lassen. Daß er jetzt, wie er mir selbst sagte, auf Seiten Derer steht, welche dem Pastor Klein vorwerfen, er habe übertriebene Berichte in die Welt gesandt, nimmt seinem in jener Denkschrift enthaltenen Gutachten gewiß nichts von seinem Werth. Wir können die Ursachen seiner veränderten Auffassung nicht angeben, doch dürften sie ähnliche gewesen sein, wie die, welche inzwischen drei Ortsvorsteher bewogen haben, ihre Unterschrift von der neulichen Erklärung zurückzuziehen. Wir halten uns an das, was er damals geschrieben: daß von Jahr zu Jahr immer größere Lohnabgänge erfolgen, daß die Weber kaum noch imstande sind, sich das Allernothwendigste zu beschaffen, daß, wenn Mißernte war, die dauernde Noth dann in potenzierter Form auftritt. „Wir sehen sie bei sirengen Wintern hier unter den armen Webern als ein schleichendes Gespenst herumziehen ... Eine Degeneration von Geschlecht zu Geschlecht ist bei den Webeen typisch geworden ... So geht es stetig bergab ... Die Zeit der Kretins wird bald gekommen sein und Exemplare solcher können in hiesiger Gegend schon nachgewiesen werden!“ ... Was ist denn aber die potenzierte Form der dauernden Noth anders als der akute Nothstand? Und nun gar in einem Winter, dem eine ganz außerordentlich schlechte Ernte vorausgegangen war, dessen ganz außerordentliche Kälte und Härte ungewöhnlich früh einsetzte und kein Ende nehmen wollte, in einem Winter, wo die Rückwirkung des allgemeinen Niedergangs der schlesischen Weberindustrie sich nirgends schärfer geltend machen mußte und geltend gemacht hat, als in diesen gottverlassenen Weberdörfern. Und solchen Zuständen gegenüber soll die Privatwohlthätigkeit entbehrlich und verderblich sein?

Trotz all dem Vielen, was ich in den letzten Monaten und jüngst erst über das Weberelend in diesen Bezirken gelesen, die Zustände, wie ich sie nun in Rückers, in den Ddrfern Goldbach, Hummelwitz, Ratschendorf, Friedersdorf. Johannisdorf bei Reinerz, um Lewin und Cudowa kennenlernte, so herzangreifend und jammervoll hatte ich sie mir doch nicht gedacht!

Schon die einsame Lage fast jeder einzelnen dieser Hütten, das kahle Heideland, dem die Väter dieser Web-Bauern das kleine, jetzt meist verschuldete Ackerstück abgewonnen, das die mit Hypotheken belastete Hütte umgiebt, die nur aus Lehm und Brettern gefügten, mit Schindeln bedeckten, stallähnlichen Hütten selbst, die mit ihren niedrigen Thüren, lichtlosen Eingängen, kleinen Fensterchen und hohen Dächern aussehen, als kauerten sie sich selbst zusammen vor den Stürmen, die hier den ganzen Winter lang über die Höhen brausen – welch kläglicher Eindruck! Ich hatte mir doch wenigstens richtige Dörfer mit Gassen vorgestellt, Dörfer mit Schulhaus und Pfarrhaus, mit einer Schänke, Arbeiter, die zwar zerlumpt gekleidet und schlecht genährt, doch auch auf ihre Weise ihren Sonntag haben und in Feierstunden bei einem Gläschen Schnaps das, was ihnen wohlthut, suchen – Vergessenheit ihrer Lage.

Doch diesen Arbeitern bringt das Leben keine Art solcher zerstreuenden Unterbrechung, sie hocken über Webstuhl und Spulrad von Sonnenaufgang bis zum späten Abend, bis ihnen unter der Petroleumlampe die immer müden Augen zufallen. Für die meisten ist der Schulbesuch der Kinder, weil mehrere der zerstreuten Ortschaften nur einen Lehrer haben, der Kirchgang zur Stadt, die Ablieferung der Arbeit ein bedeutender Verlust an Arbeitszeit und Verdienst; wenn es nicht sein muß, geht daher des Winters kaum jemand ins Freie, oft bildet auch die ganz unzulängliche Kleidung ein Hinderniß. Hier hat die Armuth alles aus dem Dasein gestrichen, was ihm sonst Schmuck und Weihe giebt. Nichts zeigte in den Webeerhütten, die ich am Gründonnerstag, am Charfreitag besuchte, einen Widerschein der kirchlichen Feste, obgleich kirchlicher Sinn und Frömmigkeit, wie ich überall merkte, kaum einem abgeht. Es wurde „gearbt“ und „gewebert“. In einer Hütte traf ich einen einsamen Greis, in die elendesten Lumpen gehüllt. Er fuhr bei unserm Eintritt von seinem Sitz in die Höhe. Auf dem alten zerbrochenen Spulrad, das vor ihm stand, war kein Faden mehr. Wie vom Tode noch einmal erwacht, stierte er aus seinen kaum sichtbaren, von entzündeten Lidern umschwollenen Augen auf uns.

Er hatte die Hände erhoben. Er meinte, seine Frau käme. „Hast Du neues bekommen?“ fragte er. Sie war mit dem von ihnen gespulten Garn weggegangen, um es abzuliefern. Als er seinen Irrthum erkannte, knickte er enttäuscht zusammen und fuhr sich verlegen über die weißen Stoppeln am Kinn. „Bringen Sie mir zum Spulen, gnädiger Herr?“ Weiter wollte er nichts von uns. Er war 76 Jahre alt. Und Arbeit war sein einzig Begehr – Arbeit und ein baldiger Tod. Alle Kinder waren ihm weggestorben, der letzte Webstuhl verkauft. So fristete er mit Spulen sein Dasein sammt seiner Frau, die gleich ihm während des Winters wochenlang „nischtnützig“, d. h. arbeitsunfähig, gewesen war.

Meist aber sind die Weberstuben überfüllt, denn die Weberfamilien sind kinderreich.

Jede dieser Hütten besteht aus zwei Theilen. Links die aus Lehm aufgemauerte Stube, der einzige Wohnraum; rechts ein verwetterter Bretterverschlag, der Stall. Dieser steht verlassen, jene hat aber oft keinen Platz für den neu eintretenden Gast. Auch die Ziege, die man der Kinder wegen nicht hat verkaufen mögen, zählt da und dort zu den Mitbewohnern der Stube und hat zwischen dem Ofen und dem Bett einen offenen Verschlag. Den Hauptraum beanspruchen die großen, bis zur Decke reichenden, oft sehr schadhaften Webstühle, die fast immer in Thätigkeit sind.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_274.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)