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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

zusammen. Aber Schliemann überholte uns bei weitem durch die Ausdauer seiner Leistungen. Wenn mir beide morgens um 7 Uhr aus unserer Holzkammer traten, hatte Schliemann schon ein gutes Stück seines Tagewerks hinter sich. Vor dem Aufgang der Sonne war er nach dem etwa 3/4 Stunden entfernten Hellespont geritten. um sein tägliches Seebad zu nehmen; nach der Rückkehr hatte er gefrühstückt, den Aufruf der Arbeiter überwacht, die Anordnungen für die Ausgrabungen des Tages getroffen, und wenn wir den Berg heranstiegen, fanden wir ihn auf einem der beherrschenden Punkte, wie er nach allen Seiten beobachtete und durch neue Befehle den Gang der Arbeiten bestimmte. Dann zerstreuten wir uns, wie es jedem paßte; jeder aß zu der ihm gefälligen Zeit, und nur an Tagen, wo, gewöhnlich nachmittags, irgend ein entfernterer Punkt in Untersuchung genommen werden sollte, vereinigten wir uns zu einem gemeinschaftlichen Ritt.

Nur ein Verhältniß gab es, wo Schliemann sich zeitweise von der Beaufsichtigung seiner Arbeiter loslöste, und gerade das ist für die Beurtheilung des Mannes von besonderer Bedeutung. Es dauerte nicht lange, da war es in der ganzen vorderen Troas bekannt, daß auf Hissarlik ein „großer Hakim“ (Arzt) weile. Schliemann selbst hatte nicht wenig dazu beigetragen, diese Kunde zu verbreiten. In der Sorge für Kranke war er unermüdlich. In gewöhnlichen Zeiten kurirte er selbst, soweit seine Mittel reichten und soweit seine Erfahrung ihm gewisse Anhaltspunkte bot, aber, da ich nun da war. führte er die Kranken zu mir und diente mir als Dolmetscher und als Heilgehilfe. Alle Tage wurden es der Kranken mehr. aber niemals versagte er seine Dienste. Selbst auf unseren kleinen Reisen legte er seiner sonst so schwer zu beruhigenden Ungeduld Zügel an, und es wird mir stets unvergeßlich bleiben, wie er selbst ganz spät, wenn wir von einem längeren Ritt heimkehrten, noch mit mir in die Hütten der benachbarten Dörfer eintrat und mir geduldig das Licht hielt, bis ich meine Untersuchung beendet und die nöthigsten Anordnungen getroffen hatte. Gab es doch fast auf 10 Stunden in die Runde keinen eigentlichen Arzt, an den wir die Armen hätten weisen können! Und auf die griechischen Priester, die sonst in Nothfällen angerufen wurden, hatte Schliemann einen großen und gerechten Zorn, denn sie hielten noch fest an der überkommenen Gewohnheit des steten Blutlassens, welches für Menschen, die durch die Einwirkung der Malaria und durch häufiges und strenges Fasten blutarm geworden waren, doppelt gefährlich ist.

Diesem tief menschlichen Mitgefühl stand bei Schliemann ein auffälliger Mangel in der Auffassung der Natur gegenüber. Niemals in seiner langen Lehrzeit war er mit einem der vielen Zweige der Naturwissenschaft in nähere Berührung getreten. Sein Auge war daher für die feinere Beobachtung der Naturprodukte nicht geschärft, und er war sehr geneigt, auf Grund oberflächlicher Merkmale Angaben zu machen. welche vor einer wissenschaftlichen Bestimmung nicht standhielten.

So hatte er die Bausteine in den Mauern der alten Ansiedelungen als „Muschelkalk“ bezeichnet, ganz unbekümmert darum, daß weit und breit in der Gegend jenes Gestein nicht ansteht, welches die Geologen so nennen. Allerdings sind diese Steine voll von Muscheln, aber sie gehören der Tertiärformation an, einer viel jüngeren Bildung, aus welcher die benachbarten Höhenzüge bestehen. Ganz besonders trat aber seine Gleichgültigkeit gegen die Natur in botanischen Dingen hervor. Beide Male, wo ich ihn in der Troas besuchte, traf ich die erste Frühjahrszeit. Ein Baum, ein Strauch nach dem andern entfaltete seinen Blätterschmuck; auf Bergen und in der Ebene, ja in den Wasserläufen und Sümpfen trieben Blüthen hervor; in entzückender Mannigfaltigkeit bedeckte sich die ganze Pflanzenwelt mit immer neuem, zum Theil in den schönsten Farben strahlendem Schmuck. Wenn unser Ritt uns in neue Gebiete führte, so stießen wir auch wieder auf neue Blumen, und da die Schnelligkeit unserer Bewegungen es mir unmöglich machte, jedesmal abzusteigen, so mußte den Fußgängern unserer Begleitung häufig Auftrag gegeben werden, bestimmte Blumen zu pflücken. Schliemann übermittelte willig meine Aufträge, aber so schwer wurde es mir, ihm selbst klar zu machen, welche Blumen ich haben wollte, daß ich häufig genug andere erhielt, als ich bezeichnet hatte. Schließlich wurden unsere Leute so sehr gewöhnt an diese Thätigkeit, daß sie freiwillig sammelten und mir ihre Erwerbungen überbrachten. Ich erinnere mich immer noch mit Rührung, wie im Anfange unserer Idareise eines Tages in den syenitischen Vorbergen unser Faktotum, der treffliche Nicola, mit seinem schwerbeladenen Klepper einen abschüssigen Fels hinaufsprengte und mir mit triumphirendem Blick eine große rothe Blume herabbrachte: es war freilich nur eine Distel, aber ich steckte sie doch mit freudigem Dank an meine Mütze.

Es machte nicht wenig Mühe, alle diese Pflanzen in erträglichem Erhaltungszustande nach Hause zu bringen, und noch mehr, sie in ordnungsmäßiger Weise einzulegen und zu trocknen. Ich verbrauchte nicht selten einen größeren Theil der Nacht zu dieser Arbeit, und die Wächter, die unsere Hütten umwandelten, waren sehr erstaunt, noch so spät Licht in meinem kleinen Fenster zu sehen. Durch sie erfuhr auch Schliemann davon, und so sehr er mir abrieth, die Nacht zur Hilfe zu nehmen, so begann er doch, mehr und mehr Werth zu legen auf die Erforschung der damals noch recht wenig bekannten Flora des Landes. Er wünschte eine Uebersicht derselben in die neue Ausgabe von „Ilios“ aufzunehmen, und als er später mit der Abfassung dieses Werkes beschäftigt war, drängte er unaufhörlich, die Liste zu erhalten. Ich theilte ihm mit, daß dies nicht so leicht sei und daß Professor Ascherson, dem ich nach meiner Rückkehr das gesammelte Herbarium übergeben hatte, Zeit brauche zu den Bestimmungen, zumal da sich schon ein paar neue Arten darin gefunden hätten. Aber selbst die Anzeige, daß eine dieser Arten seinen, eine andere meinen Namen tragen sollte, mäßigte seine Ungeduld nicht. Im Gegentheil, unter dem 29. Oktober 1879 schrieb er mir: „Die beiden unbekannten Pflanzen müssen natürlich nach Ihnen, dem gelehrten Forscher, benannt werden. Sie nach jemand zu benennen, der nichts damit zu tun hatte und nichts davon versteht, würde eine Parodie sein, deren Sie nicht fähig sind.“ Indeß hinderte diese Erwägung Herrn Ascherson nicht, eine Fritillaria Schliemanni aufzustellen und für mich den Astragalus Virchowii auszuwählen.

Die Fritillaria war gut zu bestimmen, denn ich traf sie in voller Blüthe. Dagegen sah es mit dem Astragalus schlimm genug aus. Es war ganz im Anfange meines ersten Besuches in der Troas. auf einem Ritt zum Grabe des Achilleus, als ich ein üppig treibendes Exemplar davon am Nordende des Vorgebirges Sigeion fand; aber noch war keine Blüthe getrieben. Vergeblich suchte ich nach einem zweiten Exemplar. Auch alle späteren Aufträge blieben erfolglos; selbst als geschulte Botaniker die Troas durchstreiften, die besonders darauf aufmerksam gemacht waren, gelang es ihnen nicht, die Lücke auszufüllen. Erst im vorigen Frühling, als wir eines Tages längs des Sigeion gegen Neochori ritten, stieß ich plötzlich unter dem Dimitri Tepe auf eine Anzahl blühender Exemplare dieser großen schönen Papilionacee. Aber so wenig erfaßte das Auge meines Freundes die Eigenthümlichkeiten der Pflanze, daß er später wiederholt bei ihr vorüberritt, ohne sie wiederzuerkennen.

Bei Pflanzen ließ ihn sogar seine sonst so lebendige Jugenderinnerung im Stich. Eines Tages kamen wir nach Ghiekli, einem Dorfe an der Küste des ägäischen Meeres, gegenüber von Tenedos. Ein Mann kam tief betrübt herbei und erbat Hilfe für seine schwer erkrankte Frau. Seine Sorge war so groß, daß er alle Bedenken des Orientalen überwand und uns an das Krankenbett der Frau führte. Aber wir waren fast ohne Arzneimittel, und als ich den Mann fragte, ob eine Apotheke erreichbar sei, erklärte er, dazu müsse er auf einem Boote nach Tenedos hinüberfahren oder nach den Dardanellen gehen. Wir entschieden nach einiger Ueberlegung für die Fahrt nach Tenedos, aber ich rieth, in der Zwischenzeit Umschläge mit Chamillenthee zu machen. Schliemann erinnerte sich, den Namen gehört zu haben. aber er war höchlich erstaunt, als ich ihm mittheilte, daß wir kurz vor dem Dorfe über ein Feld geritten seien, das ganz mit blühenden wilden Chamillen bestanden war. Auch der Eingeborene hatte keine Ahnung von dem Namen der Pflanze, die ich ihm zeigte, und noch weniger von ihrem Werte als Hausmittel.

Dieser Mangel an botanischem Verständniß ließ sich bei Schliemann natürlich in der Eile nicht beseitigen. Aber als er zwei Jahre später zum ersten Male den Gipfel des Ida erstieg, da brachte er von oben herab die köstlichen Blumen, die schon Homer im 14. Gesange der Ilias nennt:

„Lotos mit thauiger Blum’ und Krokos sammt Hyakinthos.“

Freilich that er es nicht der Blumen, sondern nur der homerischen Stelle wegen. Denn gerade unter dem Gipfel des Ida, tief

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_300.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)