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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Rahel erschien erst im letzten Augenblick im großen vorderen Salon, wo man die Gäste empfing und von wo aus man die Einfahrt beobachten konnte. Sie war etwas erhitzt, denn sie hatte die Wirtschafterin dabei ertappt, wie diese anstatt einer Torte für den Herrschaftstisch deren zwei gebacken hatte und zwar eine für ihren eigenen Bedarf. Im rechtschaffenen Aerger darüber hatte sie keine Muße gehabt, viel an Putz zu denken, und ihr weißes Kleid nicht einmal mit Blumen geschmückt.

Clairon traf als der erste ein. Rahel wunderte sich über die völlige Unbefangenheit ihres Vaters, aber noch mehr über den Ton, welchen die Schwester dem geliebten Manne gegenüber anschlug. In ihrem Verdacht, daß die beiden sich oft heimlich sähen, wurde sie wieder ganz irre. So freundlich und harmlos konnte man doch unmöglich verkehren, wenn man sich unglücklich, aussichtslos und heimlich liebte.

Clairon widmete sich nachher fast ganz der Frau des Rittmeisters. Die kleine Baronin sah wie ein zierliches Püppchen neben der majestätischen Lea aus, aber sie hatte ihren Zauber für sich, und Raimar sagte, sie sei ein süßer kleiner Tyrann.

Fräulein Malchen kam, mager, groß, mit vorgeschobenen Schultern, in einem schwarzen Seidenkleid, das abgetragen glänzte. Sie hatte einen Strickzeugbehälter von Perlen und Wollstickerei mit lila Seidenbeutel in den beiden vor dem Magen zusammengelegten Händen und verbeugte sich ängstlich nach allen Seiten. Sie war immer wieder von der Ehre benommen, in der ersten Gesellschaft verkehren zu dürfen, und fand erst ein bißchen Ruhe, als sie neben ihrer lieben Alide von Römpker auf dem Sofa saß.

So war denn alle Welt beisammen und wartete auf den „neuen Mann“. Der zufällige Umstand, daß die alten Bekannten sich früher zusammengefunden hatten, gab dem Eintritt des zuletzt Kommenden einen von ihm sicherlich nicht beabsichtigten Schein anspruchsvoller Wichtigkeit.

Lüdinghausen kannte außer seinem Vorgänger Raimar und Herrn von Römpker bis jetzt niemand von der Gesellschaft. Er war noch nicht einmal mit der Einrichtung seiner Behausung fertig und hatte noch gar keine Besuche gemacht. Nun sah er viele Augen neugierig und recht ungenirt auf sich gerichtet. Er machte vor jeder Dame seine Verbeugung und drückte jedem der Herren die Hand, während der neben ihm hergehende Römpker die Namen sagte. Der ganze Vorgang war, man wußte nicht recht warum, erdrückend förmlich.

Dies hielt die kleine Baronin nicht aus, und als Lüdinghausen seine letzte Verbeugung gemacht hatte, rief sie laut:

„Gott sei Dank, das wäre überstanden!“ Alle lachten, und der Rittmeister sagte:

„Wir fühlen uns in diesem engen Freundeskreis stets so sehr en famille, Herr Landrath, daß wir uns zuweilen sogar allerlei Unarten erlauben. Meine Frau insbesondere ist das verzogene Kind dieser ‚Familie‘.“

Lüdinghausen wußte eine Sekunde lang nicht, was er sagen sollte. Die Bitte, sich seinetwegen nicht zu geniren, wäre unbescheiden, die Bitte, daß er hoffe, bald auch zu dieser „Familie“ zu gehören, zudringlich und außer seiner Art gewesen. Und so sagte er ganz geistlos weiter nichts als:

„Ich bitte Sie, Herr Baron . . .“

„Wir haben Sie alle unbescheiden angesehen,“ fuhr jetzt die kleine Frau munter und förmlich stolz auf ihre Unart wieder fort, „wir starben natürlich vor Neugier auf den neuen Landrath. Sie haben alle Vortheile für sich, denn außer den hundert Tugenden, welche die Sage und dieser da“ – sie tippte mit ihrer Fächerspitze auf Raimars breite Brust – „Ihnen nachrühmt, haben Sie noch den Reiz der Neuheit.“

Lüdinghausen wußte mit dem besten Willen wieder nichts zur Antwort zu geben, als ein erzwungenes verbindliches Lächeln.

„Nicht wahr, Lea,“ wandte sich die Baronin an diese und seufzte, „hier giebt es fast nie etwas Neues. Wir werden so alt miteinander in unseren Ideen, Gesichtern, Witzen, Kleidern.“

„Die Frau Baronin erfrischt ihre Ideen und ihre Kleider jedes Jahr in Berlin, wo ihre Schwester an einen Legationsrath verheirathet ist. Ihre Witze und ihr Gesichtchen bedürfen nie der Auffrischung,“ bemerkte Römpker.

Lüdinghausen fühlte eine unaussprechliche Gleichgültigkeit diesem Geschwätz gegenüber. Er bemerkte mit heftigem Unwillen gegen sich selbst zum unzähligsten Male seine Unfähigkeit, sich zu leerem Phrasenspiel aufzuraffen. Es war etwas in ihm, eine gewisse Ernsthaftigkeit, die ihm das verbot. Mit äußerster Anstrengung sagte er:

„Ich werde ja Gelegenheit haben, dies alles zu beobachten.“

„Er scheint ein Taps oder er ist riesig hochmüthig,“ flüsterte die Baronin Clairon zu.

Ludwig erschien in der Thür mit seinem strahlenden Gesicht und die Baronin schnitt ihm lachend seine Meldung ab, indem sie rief:

„Meine Herrschaften, zu Tische! Clairon, Ihren Arm! Römpker, ich soll ihn doch haben? Auf den Tageshelden hab’ ich keinen Anspruch. Auf Sie und Raimar ist mein Mann eifersüchtig. Also was bleibt mir übrig, als Graf Clairon?“

„Diese Frau würde mich wahrscheinlich in einer Stunde krank machen,“ dachte Lüdinghausen.

Rahel sah den Schatten von Mißmuth über seine Stirn gehen.

„Wollen Sie, bitte, meiner Frau den Arm geben,“ bat Römpker.

Bei der Tafel wußte er es aber so einzurichten, daß Lea an Lüdinghausens linker Seite saß, denn er vermuthete, daß die Unterhaltung seiner Frau nicht sehr anziehend für den jungen Landrath sein würde. In Römpkers phantasievollem Kopf war nämlich seit gestern ein Einfall groß geworden. Als er den ernsten Mann mit der schönen Gestalt und dem vornehmen Gesicht sah, kam es ihm wie eine Erleuchtung: das ist der Mann für Lea. Die fürstlichen Besitzungen, welche Lüdinghausen einst zufielen, sicherten ihm ohnehin eine großartige Lebensstellung; außerdem sollte er ein bedeutender Mensch sein, er hatte sich dem Staatsdienst gewidmet, er war Landrath, würde bald in den Reichstag kommen, Oberpräsident werden; kurz, Römpker sah ihn schon als Minister, und er war doch genug Kind seiner Zeit, um die Excellenz dem „von“ gleichzustellen.

Lea kannte ihren Vater und hatte seinen Plan, in dem er vergnüglich schwelgte, ganz durchschaut. Sie beschloß, Lüdinghausen zum Sprechen zu bringen. Dies war recht schwer, denn alle gewöhnlichen Fragen, wie es ihm gefalle, wo er herkomme, welche Wohnung er gefunden, beantwortete er einsilbig und zerstreut. Lea ermüdete nicht. Sie wußte mit sicherer Leichtigkeit immer neue Gegenstände zu finden, und ohne viel Geist zu verrathen, zeigte sie doch die vollendete Dame, welche mit jedem etwas anzufangen weiß.

Endlich fragte sie auch, wie er, der einzige Erbe großer Besitzungen, sich habe dem Staatsdienst, also gewissermaßen der Unfreiheit widmen mögen.

„Ich wollte die ungeheure Verantwortung, so vielen zu gebieten und für das Wohl so vieler sorgen zu müssen, nicht übernehmen, ehe ich nicht selbst gedient hatte. Wem anders konnte ich dienen als dem Staat, wo besser Besonnenheit und Verantwortlichkeit kennenlernen, als in einem öffentlichen Amt? Auch war für meinen zur Verschlossenheit und Schwerfälligkeit neigenden Charakter der Zwang wünschenswerth, mich mit Menschen aller Art befassen zu müssen. Und gerade eine Stellung wie diese wird mir werthvolle Erfahrungen im Verwaltungswesen bringen.“

Rahel, die ihm gegenübersaß und jedes Wort hörte. fragte:

„Also Sie streben nicht nach höheren Stellen?“

„Sobald mein vorderhand noch rüstiger Vater meiner bedarf, wird er mich rufen und ich verlasse den Staatsdienst,“ erwiderte er.

Rahel sah ihn an. Wie klar er über Menschen und Verhältnisse dachte und seine Ansicht einfach feststellte!

Als die lang sich hindehnende Tischzeit vorüber war, hatte Rahel bereits eine fertige Meinung von Lüdinghausen. Sie hatte sein Unbehagen beobachtet bei den neckischen Reden der Baronin, seine Gleichgültigkeit bei den Sportgesprächen Clairons und des Rittmeisters, sein Bestreben, die Unterhaltung mit Lea aus einer „Konversation“ zu einem „Gespräch“ zu machen.

Man stand mit den Mokkatäßchen in den Händen beieinander, Rahel und Raimar nächst der Thür zum Wohnzimmer, wo sich das Klavier befand. Vor demselben bildete Lea mit Lüdinghausen und Clairon eine Gruppe. Clairon hatte mit innerer Qual gesehen, wie dieser Lüdinghausen sich immer eifriger Lea zuwandte; Lea war verstimmt, weil ihr schien, die Baronin sei liebenswürdiger gegen Clairon, als es die Freundschaft des Rittmeisters für den Grafen gestatte. Nun suchten die Liebenden einander und waren

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