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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Wie schnell die Stunde verging, wie rasch der Augenblick erschien, wo eine in weiße Seide gekleidete Gestalt an seinem Arm durch die Halle schritt, um zur Kirche zu fahren, so stolz, so glücklich! Und wie bald der Augenblick kam, wo sie in den Wagen stieg, fortzuziehen mit ihm –

Die junge Frau schob die Tasse zurück und sagte halblaut zu sich: „Nicht weiter denken, nicht weiter!“ Aber wer kann seine Gedanken bannen?

Sie erhob sich entschlossen, preßte die Hände einen Augenblick gegen die Augen und ging durch das Kontor in ihr Arbeitszimmer. Ein reicher Posttag schien es gewesen zu sein, wohl zwanzig Briefe lagen auf der Platte des Schreibtisches.

Auch eine Kiste stand daneben am Boden, der Deckel bereits gelockert.

Sie las die Briefschaften, suchte Kortmer an seinem Pulte auf und kam dann nach einer längeren Besprechung zurück. Da stieß ihr Fuß, als sie sich eben zum Schreiben niedersetzen wollte, an die Kiste, und sie legte die Feder hin, knieete auf den Boden nieder und begann, auszupacken. – Was war das nur? Immer neue Holzwolle, Heu, Papier – endlich ein fester Körper. Sie versuchte ihn herauszuheben – keine Möglichkeit, er war zu schwer. Sie drückte auf die Klingel und befahl den Hausknecht. Der kräftige Harzerbursche hatte Mühe, einen sorglich mit Seidenpapier umwickelten Gegenstand empor zu heben.

„Das ist Stein oder Eisen, Frau Jussnitz,“ sagte er, stellte das räthselhafte Ding auf den Schreibtisch, wischte sich die feuchte Stirn mit der Schürze ab und ging.

Antje aber zerschnitt die Fäden, welche die Hülle befestigten, und riß das Papier herunter, – dann stand sie mit gefalteten Händen vor einer Gruppe von Metall, sie stumm betrachtend, und allmählich überzog ihr blasses Antlitz eine dunkle Röthe, ein paar schimmernde Tropfen hingen an den langen Wimpern. Wundervoll in der Komposition wie in der Modellirung war die vorwärts schreitende Idealgestalt eines Mannes; er stand auf der Spitze eines Felsens, den er im Lauf erklommen zu haben schien, sein Fuß schwebte bereits über dem Abgrund, im nächsten Augenblick mußte er in die Tiefe stürzen, die sein nach oben gerichteter Blick nicht wahrnahm. Um seinen Leib schlang sich eine Kette, und das andere Ende der Kette schloß sich um eine rührend schöne Frauengestalt; die lehnte in antiker keuscher Gewandung an dem Fels, ihre Hand hielt eine Spindel, das Symbol der Häuslichkeit und Weiblichkeit, der zarte Fuß stemmte sich gegen einen Stein am Boden, ihr Auge aber schaute dem Manne nach. In den Zügen dieses jungen Weibes prägten sich Liebe und Angst wunderbar fein aus.

„O, wohl dem Mann, den solche Ketten binden,
Aus Tod und Elend wird er heimwärts finden.“

war unten am Sockel in geätzter Schrift zu lesen.

Und Antje verstand – sie verstand. Sie lag plötzlich auf den Knieen vor dem Schreibtisch und umfaßte das Kunstwerk in stummem Jubel.

Dann suchte sie mit zitternden Händen nach einem Briefe, nach einem Wort – sie fand nichts; nur der Frachtbrief war da, er nannte als Absender eine berühmte Kunstgießerei in einer westfälischen Stadt.

Und nun suchte sie an der Gruppe und endlich fand sie in dem Fels zu Füßen der Frau zwei kleine Buchstaben, L. J., dasselbe Zeichen, wie es Leo seinen Bildern gab. Da senkte sie den Kopf gegen das kalte Erz und weinte.

An diesem Morgen war Antje für nichts Geschäftliches mehr zu haben; Herr Kortmer besorgte alles mit verwundertem Kopfschütteln. Frau Antje aber saß in ihrem großen Wohnzimmer und schrieb Privatbriefe.

Der alte Herr sagte zu seiner Frau beim Mittagessen: „’S ist doch immer ein Räthsel mit solch einem Weiberkopf, Alte; über ein halbes Jahr lang ist sie ganz vernünftig und sogar äußerst genial in der Arbeit gewesen; heute fällt’s ihr ein, Privatbriefe zu schreiben, zu einer Stunde, wo sie auf dem Platze hätte sein sollen. Und ein Telegramm an Herrn Ferdinand Frey, den sie zum Nachmittagskaffee herbestellt, ist auch schon fort. Holla, Frau Antje, da steckt etwas dahinter!“ –

Das war eine sehr lange Besprechung mit dem Vetter Ferdinand. Zuletzt wurde auch noch Herr Kortmer zugezogen. Er fand zwei junge Menschen mit vor Eifer glühenden Wangen und Augen, die vor Unternehmungslust funkelten.

Ach, und wie sich Herr Kortmer sträubte gegen den ungeheuerlichen Plan! „Eine Kunstgießerei anlegen? Nein unmöglich, ganz unmöglich! Wie sollte man denn konkurriren mit den berühmten Gießereien, zum Beispiel in Frankreich? Ja, da haben sie eben Künstler ersten Ranges, denn das Gießen, meine Herrschaften, das Gießen ist nicht die Hauptsache. Das Erz giebt es an vielen Orten, und die Komposition bekämen wir auch heraus, aber die Entwürfe der zu gießenden Gegenstände, die Idee, die Kunst, meine beste Frau Jussnitz, das Genie – ja, ja, suchen Sie nur, das findet sich nicht so beiläufig am Wege – nein, unmöglich, ganz unmöglich! Oder denken Sie, ein gottbegnadeter Künstler komme daher, sobald Sie nur pfeifen? Herr Gott im Himmel, mit so einer Versuchsgeschichte befaßt sich keiner, der etwas kann; den hält jeder fest, der ihn hat. Lassen Sie das nur, Frau Jussnitz, ich muß durchaus abrathen.“

Der alte Herr nahm aufgeregt eine Prise und schwenkte das rothseidene Taschentuch, und als er mit der sehr umständlichen Geschichte fertig war, sah er zu Frau Antje auf und blickte in ihr lachendes Gesicht. Herr Kortmer vergaß, seine Dose einzustecken, denn er hatte seine junge Herrin seit undenklicher Zeit nicht mehr lachen sehen. Und als er zu Herrn Frey hinüberblickte, lächelte der auch.

Der pflichttreue Beamte kam sich eine Minute lang vor wie verrathen und verkauft.

„Nun,“ sagte die junge Frau, „da wollen wir die Sache so drehen, lieber Kortmer: ich schaffe Ihnen zuerst das Genie, den Künstler, und dann errichten wir mit seiner Hilfe die Gießerei. Also ich hoffe, über vierzehn Tage kann ich Ihnen den besagten Herrn vorstellen. Ich hoffe –“ setzte sie leiser hinzu, „denn ich weiß ja nicht, ob er – –“ Dann hob sie den Kopf; „doch, ich weiß es; also in vierzehn Tagen! Und bitte, lieber Kortmer, sehen Sie sich einmal diese Gruppe an, wie gefällt sie Ihnen?“

Sie zog den alten Herrn vor den Kamin, auf dessen Sims das Kunstwerk stand. Die Lampen, die zu beiden Seiten brannten, beleuchteten hell die reizenden Gestalten, deren Patina wunderbar schön in diesem Lichte erschien.

„Ja, so einen – so einen können Sie lange suchen,“ sagte er endlich.

„Also, Sie geben doch zu, daß die Gruppe schön ist, lieber Kortmer?“

„Ja, soviel ich davon verstehe, sehr schön! Uebrigens, da müßte ich mich doch sehr irren, wenn ich nicht das Ding da abgebildet gesehen hätte. Herr Gott ja, warten Sie doch mal, Frau Jussnitz –“ Und der alte Herr lief, so rasch er konnte, nach dem Kontor und kehrte mit einem Blatt aus einer illustrierten Zeitung wieder.

„Sehen Sie doch, Frau Jussnitz, das muß es ja sein, und da steht auch etwas – ‚München, den 30. August 18… Berechtigtes Aufsehen machte in der Abtheilung der Bronzen und Kunstgüsse das Erstlingswerk eines jungen Künstlers: „Ketten“. – Genial in der Erfindung, geradezu vollendet in der Modellirung ist es eine der reizvollsten Arbeiten der ganzen Ausstellung. Jeden Beschauer wird der Ausdruck des Frauengesichtes sowie die Haltung des Körpers gerührt, ja bezaubert haben. Herr Leo Jussnitz, der Schöpfer dieses Kunstwerkes, soll, wie man sagt‘ – –“

Antje hatte auf einmal dem alten Mann das Blatt entrissen und las weiter: „‚soll, wie man sagt, bereits in früheren Jahren großes Talent für die Bildhauerkunst gezeigt haben; er arbeitete vorübergehend zu Berlin im Atelier des Professor Z., wandte sich aber, trotz der Aufmunterung seines berühmten Lehrers, wieder der Malerei zu, bis er, nach mancherlei Enttäuschungen, seinem ersten Beruf wieder zugeführt wurde.‘“

Antje ließ das Blatt sinken. Sie sah Herrn Kortmer an, der alte Mann schüttelte den Kopf und wandte sich rasch und ging der Thür zu. Da stand er noch einmal still, nahm die Brille ab und wischte daran, sie war ihm trübe geworden von ein paar Thränen.

„Nun also, dann wird’s so kommen!“ sagte er und ging hinaus.

Auch Herr Frey fuhr bald fort, er wollte diese bewegte glückliche Stunde in dem Leben der jungen Frau nicht stören.

Antje schloß bald darauf einen Brief und legte ihn selbst in die Postmappe. Er trug die Adresse der Kunstgießerei in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_352.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2023)