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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Es schien. als fasse ihn ein Schwindel.

„Robert!“ rief sie und wollte sich an seine Brust werfen.

Er wehrte sie sanft ab.

„Laß mich! Du wirst von mir hören, morgen – oder wann ich das Rechte erkannt habe, Lea.“

Er hielt ihre Hand fest und sah sie an. Seine ganze Seele mit allem Jammer lag in diesem Blick. So verharrte er lange, lange und ging endlich hinaus.

Er wunderte sich über nichts, auch nicht darüber, daß Ludwig aus eigener Machtvollkommenheit des Rittmeisters Wagen hatte anspannen lassen und daß das Ehepaar schon auf ihn wartete.

Er schwieg still, als die Baronin sagte:

„Mein Gott, wir schleichen uns davon, ohne uns zu verabschieden? Wird Römpker uns das je vergeben?“

Er saß im Wagen seinem Kameraden gegenüber und hielt im Dunkel dessen Hand. Der Rittmeister verstand den Armen. „Schone mich und verlaß mich nicht,“ bat diese klammernde Hand.




7.

Rahel war in ihr Zimmer gegangen. Dort setzte sie sich still auf den Rand ihres Bettes und dachte nach.

Der kurzen und ungeheuren Aufregung war stille Fassung gefolgt.

„Ich konnte nicht anders,“ sagte sie sich. „Es war das Rechte. Sie werden mir danken, daß ich sie vor einer Sünde bewahrt habe.“

Das stellte sich in ihrem Kopf als eine ganz einfache Thatsache dar und sie wunderte sich nur, daß sie den Muth gehabt habe, aufzustehen und ihrem Vater in die Rede zu fallen. Aber sie bereute es nicht.

Sie versuchte, sich die Folgen auszudenken. Ob Clairon und Lea nun sich wirklich vereinigen würden? Wahrscheinlich. Aber das erschien ihr sehr nebensächlich. Das Eine, Große war gewiß: sie hatte Lea aus der Lüge errettet.

Mit all der Liebe und Bewunderung, welche für die Schwester in ihr lebte, versuchte Rahel sich vorzustellen, wie es überhaupt hatte kommen können, daß ein so bedeutendes Wesen sich so in Unwahrheit verstrickte. Es muß alles von dieser unglücklichen Liebe gekommen sein, meinte Rahel entschuldigend. In Leas Herzen mußte jetzt ein klarer und sonnenheller Tag aufgegangen sein und das reine Glück ihr Leben fortan bestrahlen. Das bloße Bewußtsein, aus der Lüge befreit zu sein, erschien Rahel als die Bedingung zum Glück.

Sie horchte ein paarmal, ob keine Stimmen drunten laut würden, obschon sie wußte, daß man hier doch nichts höre. Wie „er“ wohl die Sache aufgenommen hatte? Gewiß, es mochte ihm weh gethan haben, sehr weh. Ob er wohl Lea wahrhaft geliebt hatte? Nun, die Entsagung mußte er tragen, die entehrte sein Leben nicht. Aber in Lügen geküßt zu werden – das wäre Schmach gewesen.

Rahel fühlte sich von einer unaussprechlichen Befriedigung durchdrungen, ihn vor etwas Unwürdigem geschützt zu haben. Sie gestand es sich freudig: dies war der erste, vornehmste Beweggrund ihres Thuns gewesen.

Er würde heute gehen und gewiß niemals, niemals wiederkommen in dieses Haus.

Die Lippen zitterten ihr und vor ihren Augen wurde es thränendunkel. Aber das mußte ertragen sein. Sie lächelte tapfer.

Ein heißer Wunschgedanke zog durch ihre Seele, daß er einst ein echtes, großes Glück finden möge.

So träumte sie lauter gute und stille Gedanken, als sich die Thür aufthat und Lea, von ihren Eltern begleitet, hereintrat.

Rahel vermochte vor Schreck sich nicht zu erheben. Die Ihrigen sahen so erregt und so feindlich aus.

„Ihr seid mir böse?“ fragte sie mit einer Stimme, in welcher Zärtlichkeit und Furcht sich mischten. „Habt Ihr denn nicht verstanden, warum ich es mußte? Gewiß, Du begreifst es doch, Papa?“

„Unerhört und unverzeihlich hast Du Dich benommen,“ brach Herr von Römpker los.

„Ungewöhnlich, Papa,“ sprach Rahel mit sanfter Bescheidenheit. „Das fühle ich tief, und dies allein beschämte mich einige Minuten.“

„Unweiblich!“ rief er heftig.

Rahel wurde dunkelroth. Das hatte man ihr schon einmal vorgeworfen, und es that so weh. Mein Gott – wenn es wahr wäre! Wenn sie vor ihm unweiblich gehandelt hätte!

„Nun,“ sprach Lea mit einer Bitterkeit, die Rahel entsetzt aufschauen ließ, „meine schulmeisterliche Schwester hat erreicht, was sie wollte: Lüdinghausen ist gegangen. Meine Zukunft ist zerstört.“

„Die Zukunft Deines Herzens ist aber doch Robert Clairon,“ sagte Rahel und sah sie fest an; „ich hörte Dich heute durch die Musik ihm Liebesworte sagen, die ich kenne. Du liebst ihn also. Und ihn hast Du doch nicht verloren?“

„Und wenn ich ihn doch verliere?“ fragte Lea in immer steigendem Zorn.

„So hast Du Deine Ehre. Das ist mehr als alles.“

„Ueberlaß die Sorge für meine Ehre mir und Papa,“ höhnte Lea, „wir verstehen das wohl besser zu beurtheilen als Du.“

„Gewiß,“ sagte Rahel leise, „aber diesmal waret Ihr blind und sahet nicht ein, daß Ihr ein Unrecht thun wolltet.“

„Du hast einen Skandal heraufbeschworen,“ jammerte Frau von Römpker, „wir sind unmöglich geworden.“

In Rahels Innerem begann sich’s zu regen. Mit etwas mehr Nachdruck und mit weniger Demuth sagte sie:

„So schnell werden Menschen wie wir nicht unmöglich. Ein Skandal ist ein Nichts gegen die Schändlichkeit, einen Mann wie Erasmus Lüdinghausen zu betrügen.“

„Ah,“ rief Herr von Römpker, „die Liebe und Rücksicht auf die Deinen steht Dir erst in zweiter Linie.“

„In der allerersten. Deshalb bewahrte ich Euch vor Reue.“

„Sie ist noch trotzig! Obendrein noch trotzig!“ rief Lea und ging händeringend auf und ab, so daß die Lampe vor dem Pfeilerspiegel von ihren heftigen Bewegungen aufflackerte. „Unglückskind, was hast Du Dir gedacht, daß nun aus mir werden solle? Die Geschichte spricht sich in der ganzen Gegend herum. Die Dienstboten merken genug. Die schwatzhafte Baronin war zugegen. Ich bin unmöglich – für ewig dem Gespött preisgegeben, wenn ich nicht morgen eine Verlobungsanzeige herumschicken kann.“

„Ja, was hast Du Dir gedacht?“ rief auch Herr von Römpker.

„Meine Lea, meine arme Lea,“ klagte Frau von Römpker, „Deine Jugend ist vernichtet.“

„Und Du selbst,“ fuhr Lea schneidend fort, während Rahel blaß und stumm dasaß, „was soll mit Dir werden? Alle Bekannten werden mit Fingern auf Dich weisen wegen Deines romanhaften Benehmens. Jedermann wird eine Erklärung suchen für den Auftritt, den Du hervorgerufen hast, und schließlich wird man noch gar sagen, Du habest Lüdinghausen gern für Dich selbst gewollt.“

Ihr Auflachen verschlang den wehen Laut, der von Rahels Lippen kam.

„Denkst Du denn,“ sagte Herr von Römpker, „daß Lea noch schwesterlich mit Dir zusammenleben mag und kann nach diesem Vorfall? Muß uns Dein Anblick nicht immer diesen schrecklichen Tag ins Gedächtniß rufen?“

Rahel neigte das Haupt. Ihr war es, als ob alle mit Keulen auf sie einschlugen. Sie wollte wehrlos stillhalten, damit es nur ein Ende nähme.

„Thut es Dir denn gar nicht leid?“ fragte Frau von Römpker.

Da erhob sich Rahel, sah fest der Schwester ins Gesicht und sagte laut:

„Nein!“

„Nun, Papa!“ rief Lea zitternd, „ich darf Dich wohl bitten, daß mir Rahels Anblick für einige Tage erspart bleibt. Wenigstens, bis mein Geschick entschieden ist. Sie oder ich, eine von uns muß dies Haus verlassen.“

Jetzt trat der Streit für Herrn von Römpker aus dem Stadium des bloßen Wortwechsels in ein sehr unbequemes: in das der folgenreichen Forderungen an seine väterliche Gewalt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_375.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)