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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Die Weiber von San Terenzo trauen sich seit Wochen nicht mehr allein aufs Feld zum Grasschneiden wegen der Strolche.“

„So?“ sagte ich gedehnt. „Also wußtet Ihr von ihnen?“

„Ich wußte nur, daß vor einiger Zeit zwei Sträflinge aus dem Zuchthaus von Carrara ausgebrochen sind und sich in hiesiger Gegend umhertreiben sollen.“

„Beim Himmel!“ sagte ich, „warum habt Ihr mich denn nicht gewarnt?“

Der alte Seemann sah mich mit seinen ehrlichen blauen Augen an und sagte ganz harmlos:

„Ja, wenn wir die Badegäste verscheuchen, wovon sollen dann die armen Leute in San Terenzo leben?“

„Auch du, Brutus!“ dachte ich.

Wer dagegen glühende Kohlen auf unsre Häupter sammelte, das war der „Principe“.

Mitfühlend trat er zu der Gruppe heran und sagte:

„Ja, Giacomino wäre verpflichtet gewesen, Sie zu warnen; ich habe es nicht gekonnt. Sie hätten ja sonst glauben können, ich spreche aus Eigennutz.“

Mit der höflichsten Handbewegung lud er uns ein, sein neues Etablissement zu besichtigen. Er führte uns durch seine Cabinen und ging bereitwilligst auf alle Verbesserungen ein, die Clelia vorschlug, wie Spiegel und kleine Fußteppiche, und als wir das Casino verließen, hatten wir beide unsere Karten für den Rest der Badezeit in der Tasche. Von da an badeten wir täglich dort, auch die andern Ueberläufer kehrten zurück und der „Principe“ hielt die ganze Gesellschaft wieder in seinen Vaterarmen.

Noch muß ich berichten, daß ich abends beim Nachhausekommen den Schlosser fand, der soeben einen neuen Riegel an die Hausthür nagelte.

So oft wir aber künftig unser Abenteuer erzählten, entstand zwischen mir und Clelia ein kleiner Streit, ob es eigentlich vier oder fünf Spitzbuben gewesen seien, und seltsamerweise war es jetzt immer Clelia, die auf der letzteren Lesart beharrte und sich dabei auf meine frühere Aussage berief. Ein skeptischer Maler aber, der uns eine noch größere Phantasie zutraute, als wir in Wahrheit besaßen, nannte die Strolche schlechtweg frei nach Falstaff unsre „elf Steifleinenen.“

Die Schutzmannschaft von Lerici war natürlich gleich Tags darauf bei mir und Clelia erschienen, um sich den Vorfall eingehend berichten zu lassen. Von da an sahen wir auch die blanken Uniformen eine Zeit lang täglich in den Gassen von San Terenzo auftauchen. Die Organe der Sicherheit schienen nachträglich ihre ganze Wachsamkeit auf uns vereinigen zu wollen, und wären die „von drüben“ wirklich sittlich so nieder veranlagt gewesen, wie es die öffentliche Meinung in San Terenzo annahm, so hätten sie jetzt vollauf Gelegenheit gehabt, ihren verderblichen Neigungen die Zügel schießen zu lassen. Indessen wurden keine Fälle von Piraterie ruchbar, aber auch von unsern Briganten verlautete nichts weiter.

Der Eifer der Carabinieri mußte bald abgekühlt sein, denn die weißen Federbüsche waren schon nach kurzem nicht mehr zu sehen.

Das ganze Abenteuer schien längst in Vergessenheit begraben, als ich eines Tages aus dem Casino geräuschvoll zu der Festnahme meiner Briganten beglückwünscht wurde.

Noch desselben Tages kamen auch die beiden Braven von Lerici herüber, glühend vor Siegeswonne, und berichteten ihre Geschichte, die ziemlich einfach war.

Als sie sich überzeugt hatten, daß ihre Streifereien in Uniform nutzlos seien, griffen sie zur List. In Verkleidungen, die sie, um Aufsehen zu vermeiden, täglich wechselten, durchforschten sie die Gegend lange vergeblich. Man nahm bereits an, daß sich die beiden Sträflinge ins Ligurische hinüber gezogen hätten, da kamen unsre zwei Carabinieri eines Tags auf den Einfall, als Schnitterinnen das lange Gras in der Vallata zu mähen, einen Korb mit Eßwaaren neben sich. Kaum waren sie am Werk, so brachen aus dem Rohrwäldchen hervor zwei zerlumpte, verwilderte Gestalten, mit langen Messern in den Gürteln und Knotenstöcken in den Händen, und versicherten sich ohne viel Umstände des Eßkorbs. Die vermeintlichen Weiber thaten sehr erschrocken, bis sie ihre Revolver aus den weiten Röcken gezogen hatten, dann riefen sie durch einen Pfiff in die Hände zwei in der Nähe aufgestellte Kameraden herbei und bemächtigten sich der Angreifer, die gleich durch Handschellen festgemacht wurden. Als die Strolche gesäubert und rasirt waren, konnte mit Hilfe der im Besitz der Behörde befindlichen Photographien mit Leichtigkeit bewiesen werden, wer sie waren.

„Es thut mir nur leid, daß ich sie Ihnen nicht vorstellen kann,“ fügte der höfliche Brigadier seiner Erzählung hinzu.

Ich dankte lachend für so viel Aufmerksamkeit, sah aber wohl, daß der Mann noch etwas auf dem Herzen hatte.

Nach einigem Zögern begann er:

„Wir hatten infolge Ihrer Begegnung in der Vallata den Befehl, auf fünf Briganten zu fahnden. Nun sind jedoch aus dem Zuchthaus von Carrara nur zwei entsprungen, und nur von diesen zweien haben wir das Signalement erhalten. Diese sind denn auch festgenommen und überführt, wiewohl sie den Ueberfall in der Vallata hartnäckig leugnen. Wo aber wären die drei andern hingekommen?“

„Ja, das frage ich auch.“

„Sind es denn wirklich fünf gewesen?“ fragte er mit einem kaum merklichen Lächeln. „Sollten Sie sich nicht getäuscht haben? Die Damen waren ja ohnehin über die Zahl nicht einig.“

„Herr Brigadier,“ sagte ich ernst, „ich kann auf vier Briganten einen Eid ablegen. Den fünften lasse ich dahingestellt, denn es könnte sein, daß ich aus Schreck einen doppelt gesehen hätte.“

„Könnten Sie nicht auch zwei doppelt gesehen haben?“

„Nimmermehr!“ entgegnete ich.

Signora Clelia, an die man sich gleichfalls mit der Frage wandte, wurde sehr unmuthig, sie erinnerte sich jetzt ganz genau nicht nur der vier, sondern auch des fünften, den sie eben so deutlich beschrieb wie seine Kameraden, so daß ich über dieser Sicherheit selbst wieder irre wurde und mich am Ende ihrer Aussage anschloß.

Der Brigadier ließ die Frage eilig fallen, er wollte die Signora offenbar durch keinen weiteren Widerspruch reizen, damit die Zahl der Briganten sich nicht noch vermehre.

Die Nachforschungen wurden aufs neue betrieben, doch ohne weiteres Ergebniß. Der größere Theil der Badegesellschaft neigte nun natürlich zu der Ansicht, daß wir in jener Schreckensstunde unter dem Bann einer optischen Täuschung gestanden hätten; wir mußten uns manche Neckereien gefallen lassen und besonders der skeptische Maler versetzte Signora Clelia in hellen Zorn, weil er uns in seinem trockenen Ton dringend rieth, betreffs der Zahl einen Vergleich mit den Wächtern des Gesetzes zu schließen – es sei ja schon Triumph genug, daß jetzt zwei wirkliche Banditen verbürgt und in die Annalen der Geschichte eingetragen seien. – –

Er gab sich für ein Original, dieser Maler, der seinen deutschen Namen Georg Maurer ins Italienische übersetzt hatte und sich jetzt „Giorgio Mauro“ schrieb. Hoch oben im Gebirge hatte er sich in einem alten baufälligen Thurm einquartiert und kam nur, wenn ihn der Hunger trieb, nach Lerici oder San Terenzo herunter; den Rest der Zeit verbrachte er in seiner Einsiedelei – wo er vom Meer nichts sah als einen Streifen am Horizont – unter Kühen, Ziegen und Farbentöpfen. Und das nur der Badegesellschaft wegen, die er haßte, ohne sie zu kennen, denn er behauptete, sie hätte dem Golf schon seine besten Reize wegbewundert, die darum von Jahr zu Jahr weniger würden. Nie malte er einen Gegenstand, der schon andern zum Modell gedient hatte, und ebensowenig konnte er es leiden, wenn ihm jemand bei der Arbeit zusah, weil er versicherte, daß der Genius alsbald von ihm weiche, wenn seine Heimlichkeit gestört werde, und daß dann von Stund an kein Segen mehr bei seinem Werk sei.

Darum wunderten wir uns ein wenig, als wir eines Tages von ihm aufgefordert wurden, ihn in seiner Klause zu besuchen und sein neuestes Bild in Augenschein zu nehmen. Er sei durch Giacominos Erzählung von dem Briganten Giuseppe Suffardi angeregt worden, den Ueberfall einer Postkutsche auf der Magrabrücke zu malen, und habe das Bild für die römische Ausstellung bestimmt. Da wir im Brigantenfache Sachverständige seien, fügte er lächelnd hinzu, halte er große Stücke auf unser Urtheil. Ich sagte ihm auch, soweit es von mir abhing, gern unsern Besuch zu; schwieriger war es, Signora Clelia für die Partie zu gewinnen, die, seitdem sie nicht mehr jeden Tag über Geröll und Klippen nach der Vallata zu pilgern brauchte, gleich wieder in ihre alten trägen Gewohnheiten zurückgefallen war, sich um neun Uhr erhob und gegen Mittag mit ihrer ersten Toilette fertig wurde.

Doch ich fand den Weg zu ihrem Herzen, denn ich erinnerte mich, daß ich in ihrem Zimmer ein niedliches mitgebrachtes Jagdgewehr gesehen hatte, das vorjährige Geschenk ihres Mannes, ein unschuldiges Spielzeug, das bis beute noch keinen Tropfen Blut vergossen hat. Ein zierlicher Jagdanzug befand sich gleichfalls unter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_383.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2024)