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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Ein Lebensretter im Hochgebirge. Vom Hintergrunde des Grödnerthales in Tirol führt, mitten hindurch durch die bizarre Pracht der Dolomiten, ein Uebergang hinüber nach Kolfuschg, vom Volke das „Grödner“ oder „Kolfuschger Jöchl“ genannt. Es ist nicht schwierig zu begehen im Sommer und bei gutem Wetter. Anders aber, wenn wildes Schneegestöber oder dichter Nebel den Pfad verhüllt! Der einsame Wanderer, der auf dieser Höhe vom Unwetter überfallen wird, sieht sich plötzlich rath- und schutzlos den tückischen Elementen preisgegeben, er verliert den Weg, irrt verzweifelnd umher und ist rettungslos dem Verderben verfallen, wenn nicht eine helfende Hand sich nach ihm ausstreckt.

Und sie ist ihm nahe, die helfende Hand. Ein alter Bauer taucht plötzlich vor ihm auf, in grobem Lodengewand, mit „Schneestrümpfen“ (Gamaschen) angethan und Schneereifen an den Füßen. Er reicht dem Verschmachtenden erst einen stärkenden Trunk, dann geleitet er ihn sicher entweder vollends hinüber ins jenseitige Thal oder, wenn das Wetter zu schlecht, der Verunglückte zu entkräftet ist, bringt er ihn nöthigenfalls auf dem vorsichtig mitgenommenen Schlitten, zurück nach seiner schlichten Bauernhütte am Fuße der Ferrara Alpe, um ihn dort solange mit uneigennütziger Gastfreundschaft zu pflegen, bis er imstande ist, seine Reise fortzusetzen.

Wer aber ist dieser hilfreiche Geist, der wie ein guter Engel die Wanderer in diesem Felsenwinkel umschwebt, und wie ist es möglich, daß er immer da zur Stelle ist, wo man seiner bedarf?

Die Antwort darauf enthüllt uns das Bild eines Mannes, der so groß dasteht an edler Menschlichkeit wie jener Wackere, auf den Gottfried August Bürger einst das „Lied vom braven Mann“ gedichtet hat.

Johann Battista Lardschneider, gemeinhin „Inatscher“ (richtiger „Livinatscher“) genannt, ist der Besitzer eines bescheidenen Gehöftes, dessen Benennung „Livinatscha“ man mit den häufigen und gefährlichen Lawinenstürzen der Gegend in Zusammenhang bringt, wie man wohl auch den Besitzer selbst im Scherze den „Schneebauer“ heißt. An seinem Hause vorbei führt der Aufstieg zum Joche. Ahnungslos pilgert der Fremde vorüber: er ist bei leidlichem Wetter aufgebrochen von Sta. Christina und denkt bei guter Zeit drüben zu sein in Kolfuschg oder Corvara. Lardschneider aber kennt die Wetterzeichen des Hochgebirgs besser. Er weiß, daß binnen wenigen Stunden der Nebel undurchdringlich am Berge hangen oder daß die weißen Flocken dahergefegt kommen werden auf den Flügeln des Orkans, und ihm ahnt nichts Gutes für den sorglosen Wanderer. So folgt er ihm still, ohne sich und seinen Rath aufzudrängen, nur um nahe zu sein im Falle der Gefahr, – und mehr als zwanzig Menschen hat Johann Battista Lardschneider auf diese Weise das Leben gerettet, ohne je mehr als ein „Vergelt’s Gott“ dafür anzunehmen.

Johann Battista Lardschneider, ein Lebensretter im Hochgebirge.

Heute ist dieser „Lebensretter von Profession“, wie man den Wackeren nennen möchte, 63 Jahre alt; von untersetztem starken Körperbau, erfreut er sich geistiger und körperlicher Rüstigkeit; er lebt genügsam von dem schmalen Erträgnisse seines kleinen Bauerngutes und vom Taglohne. Richtet ein Nachbar an ihn die Frage, warum er denn die Vorbeireisenden ganz ohne Vortheil beherberge und sich selbst oft der Lebensgefahr aussetze, um andere, ihm fremde Leute zu retten, so giebt er zur Antwort: „Mein seliger Vater, der im Jahre 1856 gestorben ist, hat mich an seinem Todestage noch an sein Bett gerufen und zu mir gesagt: ‚Battista, beherberge die armen Fremden und leiste ihnen Dienste nach Deinen Kräften!‘ Soll ich denn die letzten Aufträge meines todten Vaters nicht gewissenhaft befolgen? Und es hat mich auch niemals gereut, das gethan zu haben, was mein guter Vater schon gethan hat und was auch meine eigenen Söhne thun werden, sobald ich todt bin!“

Für die großherzige Gesinnung dieses seltenen Mannes ist übrigens noch ein Zug bezeichnend. Nicht nur den Menschen, sondern auch den Thieren läßt er seine Retterthätigkeit zu gute kommen. Mehr als einmal hat er das Weidevieh der Bauern aus jener Gegend noch rechtzeitig zu Thal getrieben, ehe es dem tückischen Schneesturm zum Opfer fiel. Der Paßübergang selbst aber wurde auf Lardschneiders Anregung hin im vorigen Herbst durch Stangen gezeichnet. –

Vielleicht dringen diese Zeilen der „Gartenlaube“ auch bis zu dem schlichten Bauern im Grödnerthale. Mögen sie ihm dann ein Beweis sein, daß ihm der Dank für seine edlen Thaten nicht mangelt und daß man draußen in der Welt mit Bewunderung aufblickt zu seinem Beispiele. Es hat ja nicht jeder Gelegenheit, fort und fort Menschenleben aus Todesgefahr zu befreien. Aber jeder kann streben, daß er an werkthätiger Nächstenliebe, an unerschrockenem Opfermuth, an selbstloser Uneigennützigkeit werde wie jener „Lebensretter im Hochgebirge“.

Eine abgehärtete Pflanze. Wie weit das Anpassungsvermögen gegen hohe Kältegrade in der Thier- und Pflanzenwelt gehen kann, davon berichten uns die Nordpolfahrer. Die wunderbarste Mittheilung dieser Art verdanken wir Nordenskjöld aus der Zeit, wo er am Strande von Pillekaj an der Nordküste Sibiriens mit der „Vega“ im Jahre 1878/79 überwinterte. Die mittleren Temperaturen der Wintermonate, vom November bis April, betrugen –16° bis –26° C., und an einzelnen Tagen verzeichnete man selbst den klingenden Frost von –40° bis –46° C.! Auf diesem kalten Strande wuchs auf der Kuppe eines dem Anprall der Winde ausgesetzten Sandhügels ein Stock des Löffelkrautes (Cochlearia fenestralis). Die Polarforscher hatten im Sommer 1878 gesehen, wie dieses Kraut zu blühen begann und auch theilweise Früchte ansetzte. In diesem Zustande der Blüthe, wo die Pflanze noch eine Menge ungeöffneter Blüthenknospen trug, wurde sie von dem furchtbaren Polarwinter überrascht. Man hätte erwarten sollen, daß die Frostgrade von –40 bis –46° C. die zarten Blätter und Knospen, die unreifen Samen erbarmungslos zerstören würden. Mit nichten! Das Kind der nordischen Flora erlag nicht dem Schicksal unserer zarten Blumen, die schon ein Reif tödtet. Als der Sommer wiederkam, da erwachte die Pflanze und setzte ihr Leben dort fort, wo es durch den Winter unterbrochen worden war; ihre Blätter grünten weiter, aus den Blattachsen sproßten neue Blüthenstände hervor, und die Blüthenknospen, die der vorhergehende Sommer gebildet hatte, öffneten sich. Da blieben die Nordpolfahrer erstaunt stehen und sannen nach über dieses Wunder der Natur, uber diese unverwüstliche Lebenskraft, die der rauhen Polarwelt zu trotzen wußte. *     




Inhalt: Lea und Rahel. Roman von Ida Boy-Ed (8. Fortsetzung). S. 409. – Sommer. Bild. S. 409. – Kissinger Brunnenpromenade. Von Oscar Justinus. S. 414. Mit Bild. S. 413. – Mein Dienst auf der „Elisabeth“. Von H. Rosenthal-Bonin (Schluß). S. 415. Mit Abbildungen S. 416, 417, 418 und 419. – Das Frühlingsfest der Berliner Künstler. Bild. S. 420 und 421. – Eine Bechte. Novelle von Ernst Wichert. S. 422. – Das Frühlingsfest der Berliner Künstler. Von Hermann Heiberg. S. 425. Mit Abbildungen S. 420, 421, 425, 426 und 427. – Blätter und Blüthen: Brehms Thierleben. S. 427. – Ein Lebensretter im Hochgebirge. Mit Bildniß. S. 428. – Eine abgehärtete Pflanze. S. 428.




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Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_428.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2023)