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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Rahel, die ihr ganzes Wesen von der Wucht bloß einer solchen Möglichkeit erschüttert fühlte, sagte scharf:

„Ich denke größer von dem Gott über uns, als daß ich ihm eine so schadenfrohe und merkwürdige Art von Bestrafung zutrauen könnte. Wie unsinnig! Um Leas Hochmuth, ihren Mangel an Opferwilligkeit für ihre Lieben zu züchtigen, sollte der arme, vielmißbrauchte, liebe Gott den älteren Grafen Clairon tödten? Du sollst den Namen Deines Gottes nicht unnütz führen.“

Malchen streckte das magere Hälschen vor wie ein Huhn und schlug die Augen zu Raimar auf.

„So geht es leider oft. Die liebe gute Rahel marschiert immer in Waffen gegen mich.“

„Aber es sind nur kleine Uebungen, kein wirklicher Krieg,“ tröstete Raimar lachend. Ihm war das alte Dämchen äußerst langweilig und er hätte sich schön gewundert, hätte er erfahren, daß sie ihn als einen früheren Verehrer ansah.

Rahel verbarg tief, daß sie fieberhaft auf weitere Nachrichten warte, und machte sich ungewöhnlich viel zu thun, um ihre Gedanken abzulenken.

Eines Tages fand sie in ihrem Schreibtisch zweihundert Thaler Papiergeld in einem Briefumschlag. Da fiel es ihr vorwurfsvoll aufs Herz, daß sie die Löhnertsche Familie vergessen habe über all den eigenen Leiden. Frau Löhnert hatte gerade in den Tagen das Geld holen sollen, als Schlag auf Schlag jene Ereignisse kamen. War die Frau vielleicht hier gewesen, während sie selbst sich auf Kohlhütte befand? Hatte der Vater sie fortgeschickt oder ihr geholfen? Und weshalb ließ sich die Frau nicht sehen?

Rahel beschloß, sogleich hinzugehen. Eine Viertelstunde über Römpkerhof hinaus lag das Dörfchen, welches, zum Gut gehörend, meist aus den Wohnungen der Tagelöhner und einigen Käthnerstellen bestand.

Sie steckte das Geld für alle Fälle zu sich und machte sich auf den Weg. Es war Herbst geworden, gelbe Blätter schwebten, vom eigenen Gewicht herabgezogen, durch die stille Luft zur Erde nieder. Auf den Feldern zogen die Pflüger ihre langen, klebrig dunklen Furchen. Der Horizont, mit den Pappeln um Raimars Haus, schien ganz nahe gerückt. Friedvoll und klar war der Tag. Eine Reihe von Kartoffelwagen, mit vollen Säcken beladen, fuhr dem Wirthschaftshof zu. Fern blinkte irgendwo ein Flämmchen auf, wie ein Stück Blattgold, das man da hingeklebt hat, und darüber hin, fast am Erdboden kriechend, zog blauweißer Dampf. Die Leute verbrannten das Kartoffelkraut, und die ganze Luft roch nach feuchter Erde, so daß Rahel hoch aufathmete. Sie liebte den kräftigen Geruch des Bodens, der all diesen Menschen seine Früchte gab.

Im Dörfchen war es still. Eine alte Frau wartete eines kleinen Kindes im blassen Sonnenschein vor einer Hausthür. Rahel sprach freundlich mit ihr. Unter der großen Pumpe waren ein paar kleine Jungen beschäftigt, eine Rinne auszugraben, ihre Nußschalschiffchen mit den Schwefelholzmasten und den Papiersegeln hielt der eine von ihnen auf seinen flachen Händen ängstlich vor sich hin.

Vor Löhnerts Haus stand eine Wiege, der Knabe, welcher Rahels Pathenkind war, saß daneben, lernte laut aus einer Fibel und wiegte dabei das Schwesterchen auf eine unsinnige Art. Es gab jedesmal ein dumpfes Aufstoßen, wenn die Gängel hüben und drüben mit ihrem äußersten Punkte den Boden erreichten.

„Wilhelm, Junge, das darfst Du nicht! Die Kleine wird ja schwindlig,“ rief Rahel.

Der Junge ließ die Wiege los, die nun langsam ausschaukelte.

„Wo ist Deine Mutter?“

„Bei den Kartoffeln.“

„Und Vater?“

„Auch bei den Kartoffeln.“

Rahel mochte den Burschen nicht ausforschen, wie es ihnen gehe, ob die Schulden bezahlt seien.

„Weshalb bist Du denn nicht mit?“ fragte sie, da sie wußte, er werde sonst schon herangezogen zu solchen Arbeiten.

„Nee, ich soll nicht. Der Herr Landrath sagt, ich wachse sonst nicht,“ erklärte der Knabe wichtig.

Rahel fand, daß er sowie die Kleine in der Wiege sehr ordentlich aussahen.

„Von wem hast Du die Jacke?“

„Vom Herrn Landrath.“

Rahel bekam Herzklopfen. Wie kam er dazu, sich ihrer bisherigen Schützlinge anzunehmen?

„Ich gehe mal ins Haus, Wilhelm, und schaue mich da ein bißchen um.“

„Schön,“ erwiderte er.

Rahel ging ins Haus. Auf der Tenne lagerten Kartoffelsäcke, die heute hereingefahren worden sein mochten. Trotzdem sah man, daß Ordnung herrschte. Die Bansen waren voll Heu und Stroh, links im Verschlage standen zwei schöne Kühe. Rahel kraute ihnen kosend die schwarzweiß gefleckte Stirn. Im Hintergrund des Hauses befanden sich die Stuben und die Küche. Alles war sehr ordentlich, und Rahel, die hier jedes Stück kannte, bemerkte das eine und andere neue Geräth.

Kein Zweifel mehr, hier waltete eine helfende Hand und hier wachte ein strenges Auge.

Er also, er hatte die bedrängte Familie nicht vergessen trotz des eigenen Leids. Ihr war, als müsse sie sich tief vor ihm schämen.

Sie ging wieder hinaus und setzte sich neben den Knaben auf die Bank. Nichts wäre einfacher und natürlicher gewesen, als ihn auszufragen. Aber in ihrer Aufregung war sie dazu nicht imstande.

Bauernkinder sind nie gesprächig, der kleine Wilhelm schwieg auch. Aber als Rahel geraume Zeit still neben ihm saß, dachte er, sie warte auf seine Mutter.

„Mutter kommt noch lange nicht,“ ließ er sich vernehmen, das Wort „lange“ so ausdehnend, als wolle er damit eine ungemessene Dauer ausdrücken.

Rahel stand auf.

„Nun, ich besuche Euch ein ander Mal,“ sagte sie. „Sei nur recht artig und fleißig, damit der Herr Landrath Freude an Dir hat!“

Der Junge grinste. Diese Ermahnung hatte für ihn etwas sehr Vergnügliches.

„Und er sagt,“ erwiderte er, „ich soll wegen Fräulein Rahel brav sein.“

„Weshalb lachst Du darüber?“ fragte sie.

„Aber ich lache ja gar nicht,“ rief der Iunge, „es ist man, weil Vater sagt, wir könnten uns das wohl gefallen lassen.“

„Was?“

„Vater sagt, den Sack schlägt man und den Esel meint man,“ erzählte Wilhelm etwas ängstlich, denn die streng auf ihn gerichteten Augen erschreckten ihn, auch hatte das Fräulein einen solch rothen Kopf bekommen. Und er war sich doch nicht bewußt, etwas Böses gesagt zu haben, es war ja nur so komisch, daß der Vater Recht behalten hatte, denn der hatte gemeint, der Landrath thäte es ja nur wegen des Fräuleins, und nun fehlte noch, daß das Fräulein auch was thäte wegen des Herrn Landrath.

„Ach, sein Sie man nicht böse,“ setzte er weinerlich hinzu, „sonst krieg’ ich Haue von Muttern.“

Aber Rahel klopfte ihn fast zärtlich auf die rothen Wangen und erwiderte sanft:

„Also grüße die Mutter, und ich käme übermorgen wieder.“

Sie hatte, vor ihm stehend, der Straße den Rücken zugekehrt, und als sie sich jetzt umwandte, schrak sie zusammen. Erasmus Lüdinghausen ging eben mit raschen Schritten auf das Haus zu. Er hatte sie schon gesehen und erkannt. Nun stand er vor ihr und ergriff ihre Hand.

Ihre Blicke versenkten sich tief ineinander, wie damals an dem Unglückstag.

„Ich danke Ihnen für das, was Sie an diesen Leuten gethan haben. Ich bin beschämt, denn ich hatte ihrer Noth eine Weile vergessen,“ sagte sie leise.

„O, ich war so glücklich, hier von Ihnen sprechen zu können, von dieser guten, anhänglichen Frau mir aus Ihrer Kindheit erzählen zu lassen. Ich habe im Eigennutz gehandelt. Vor Ihnen wenigstens soll mein Thun nicht den Schein selbstloser Wohlthätigkeit haben.“

Er fühlte, wie ihre Hand in der seinen zitterte. Ihre Augen, die an ihm hingen, waren feucht.

Er sah, daß auch sie schmerzlich bewegt war, und mit festerem Druck umschloß er ihre Hand, welche sie ihm jetzt entzog.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 434. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_434.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2023)