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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

wurde und fortwährend leise vor sich hinspricht, dabei mit den Händen lebhaft gestikulierend; einige auf Abwegen ergriffene Mädchen, diese mit pelzbesetzter Sammetjacke und mächtigem Federhut, jene in dünnem Kattunkleidchen, ein Umschlagtuch um Kopf und Oberkörper gehüllt.

Aber auch für Humor ist gesorgt, obgleich für einen verzweifelt unfreiwilligen: welch’ merkwürdige Erscheinung klettert dort aus dem Wagen? Ein absichtlich vorgeschobener Capothut bedeckt den Kopf, zerrissen hängt der Schleier herab, ein weiter, ängstlich zusammengeraffter Radmantel läßt ein grün und weiß gestreiftes Kleid vorschimmern, und beim Heruntersteigen enthüllt sich uns ein Paar sehr kräftiger, mit starken Zugstiefeln bekleideter Füße.

„Welchen Vogel bekommen wir denn da wieder?“ sagt der Wachtmeister und betrachtet aufmerksam die Gestalt.

„Die schwarze Minna!“ meint der Schutzmann.

„Ah, ein alter Bekannter, auch ’mal wieder ertappt?“

Die Mädchen kichern verstohlen, und die Vagabunden raunen sich einige spöttische Bemerkungen zu, „die schwarze Minna“ aber scheint sich sehr ungemüthlich zu fühlen und nicht zu wissen, zu welcher der beiden bereits gesondert stehenden Gruppen sie sich gesellen soll.

„Geh man zu Deinem Geschlecht, schwarze Minna,“ sagt der Wachtmeister und zeigt auf die Strolche – denn die „schwarze Minna“ ist ein Mann, der es liebt, in weiblicher Verkleidung seine abenteuerlichen Fahrten zu unternehmen.

Doch der Wagen ist noch immer nicht geleert – der Schutzmann steigt hinauf und schiebt die Riegel der kleinen Zellen zurück, aus jeder tritt ein Mann, der erste mit den gefesselten Händen ein auf einem Einbruch ertappter, gewaltthätiger Verbrecher, während der andere, sein Gefährte, den Aufpasser machte und dabei mit ergriffen wurde. Die Schutzleute haben enger den Wagen umschlossen, die übrigen Arretierten blicken neugierig auf den Einbrecher.

„’S ist der Kellner-Justav,“ sagt einer der Pennbrüder, „det wird wohl wieder n’ paar Jahre Zuchthaus jeben.“

Der den Spitznamen „Kellner-Gustav“ führende Verbrecher kümmert sich nicht um seine Umgebung; gleichmüthig starrt er vor sich hin auf den Boden, er weiß, daß kein Leugnen möglich ist, da er auf frischer That ertappt wurde, und daß ihn auf geraume Frist die Zuchthausmauern wieder einschließen werden; höchstens sinnt er darüber nach, wie er seinen Genossen, den er natürlich gar nicht kennen will, mit dem er aber schon oft genug „gearbeitet“ hat, durch ein kunstvolles Lügengewebe befreien kann.

Die beiden stehen abseits und werden nun, nachdem der Wagen seines lebenden Inhalts entledigt ist, von mehreren Schutzleuten sofort zur Kriminalabtheilung verbracht. Die übrigen Arrestanten haben sich schon in eine männliche und eine weibliche Gruppe zusammengefunden und werden unter Bedeckung nach dem nahen Männer- oder dem Frauengewahrsam geführt, um sobald wie möglich vor den Richter gestellt und je nachdem zu kürzerer oder längerer Polizeihaft oder Strafarbeit verurtheilt zu werden. Daß es sich hier nie um lange Untersuchungen der Vergehen und Gesetzesübertretungen handeln kann, liegt auf der Hand. Zumeist nehmen die Schuldigen auch ruhig ihr Strafmaß entgegen, nur bei den Frauen und Mädchen kommt es häufiger zu erregten Auftritten; viele von ihnen verstehen das Schauspielern vorzüglich und betheuern mit bühnengerechter Lebhaftigkeit ihre Schuldlosigkeit, andere bereuen auch wohl wirklich tief den ersten Schritt auf der abschüssigen Bahn und möchten gern zurück auf den verlassenen Pfad des Rechten.

Während des Tages beherbergen also diese Polizeigewahrsame nur vorübergehende Gäste; die eigentlichen „Logisnehmer“ und „Logisnehmerinnen“ werden während des Abends und der Nacht eingeliefert; Wagen auf Wagen rollt dann in den einsamen Polizeihof, und eine Schaar nach der andern wird den hallenden Flur entlang geführt und verschwindet hinter der von einem Schutzmannsposten besetzten starken, eisenbeschlagenen Thür, neben der ein Signalwerk angebracht ist, sodaß bei einem Krawall sogleich Hilfe von der nahen Schutzmannswache zur Stelle ist. Aber fast nie ist es nöthig: diese Pennbrüder und Landstreicher, diese Betrunkenen und Herumtreiberinnen verhalten sich meist ruhig. Und ist einer oder eine von ihnen einmal ungebärdig und befolgt nicht die Anordnungen des wachehabenden Schutzmannes, so sind die Isolierzellen nahe, und es gehört nicht zu den Annehmlichkeiten selbst des Strolchenlebens, die Nacht in einem solchen kalten, engen, finsteren Viereck auf hartem Steinboden zu verbringen. Dagegen ist ja dieser Polizeigewahrsam beinahe noch als gemüthlich zu bezeichnen; der große, gewölbeartig gebaute Raum ist geheizt und durch mehrere Gasflammen erhellt; hinter dem hölzernen Gatter, welches den Aufenthaltsort des Schutzmannes von dem der Eingelieferten abschließt, steht eine Anzahl hölzerner Bänke, die im Winter häufig sämmtlich besetzt sind. Ein trauriger, herzbewegender Anblick, diese Verkommenen hier zu beobachten, zumal in ihrem stumpfen Gleichmuthe, der bei der Mehrzahl in jeder Handlung und Bewegung zur Schau tritt – ob sie nun, wenige Worte wechselnd, nebeneinander sitzen oder stundenlang gleichgültig vor sich niederstarren, ob sie sich ihr „Lager“ zurechtmachen, indem sie die zusammengerollte Jacke als Kopfkissen benutzen, oder sich auch auf dem bloßen Boden ausstrecken – fast alle tragen den Stempel der grenzenlosesten Unempfindlichkeit gegen die Eindrücke der äußeren Welt auf ihren Zügen, und doch ist diese Welt wohl manchem einstmals in besserem und freundlicherem Licht erschienen und hat ihm eine andere Zukunft vorgegaukelt als diese trübe Gegenwart. Und dabei möchte man die Hoffnung nicht aufgeben, daß sich der eine oder andere, unterstützt von einem glücklichen Zufall, wieder zu einem menschenwürdigeren Dasein emporschwingen und später mit Entsetzen jener Nacht im Polizeigewahrsam gedenken werde, jener Nacht, die ihn leicht für immer dem Verderben überliefert hätte.

Sehen wir uns nun einmal wieder nach jenen um, die unter starker Schutzmannsbedeckung unmittelbar vom „Grünen Wagen“ der Kriminalpolizei überliefert wurden; ihr nächster Aufenthalt ist, nachdem ihnen Messer, Papiere, Geld etc. abgenommen wurden, das Wachtzimmer; hier arbeiten mehrere Wachtmeister, welche die Transportscheine der Verhafteten erhalten und deren Personalien feststellen. – Ist dies gethan, so werden die Eingelieferten in das Sistierzimmer gebracht, dessen wesentlichste Ausstattung in einer sich an den Wänden entlangziehenden hölzernen Bank, einem mit Wasser gefüllten Blechkruge und einem Becher zum Trinken besteht. Gewöhnlich sind dort schon „Gäste“ vorhanden, denen natürlich jede Verständigung oder Unterhaltung, sei es durch Worte oder durch Gebärden, aufs strengste verboten ist; und daß diese Verordnung eingehalten wird, dafür bürgt der hier aufgestellte herkulisch gebaute Schutzmann, welcher die Inhaftierten scharf beobachtet. Unterdessen sind deren Personalien in die Registratur gelangt, wo in riesenhohen Ständern die Akten über jeden Berliner Einwohner aufbewahrt werden. Nach wenigen Minuten sind die zugehörigen Aktenbündel, die neben den Angaben über Geburt, Verheirathung etc. auch die etwaigen Vorstrafen enthalten, herausgesucht und wandern nun zu jenem Kriminalkommissar, dem die betreffende Angelegenheit zur Untersuchung überwiesen ist. Nachdem dieser sich über den Verhafteten und dessen That genau unterrichtet hat, läßt er ihn vorführen, und das Verhör beginnt.

Der Ton hierbei ist zumeist ein ganz jovialer, fast immer kennen sich Kommissar und Verbrecher bereits aus früheren Verhandlungen, und während ersterer die „Spezialitäten“ des Thäters, seine Schliche und Lügengewebe weiß, fürchtet letzterer mehr oder weniger die „Findigkeit“ und den Scharfsinn des Beamten und richtet hiernach sein Leugnen ein. Denn geleugnet wird stets, wenn die Sache nicht ganz klar und ein „Herausreden“ deshalb nicht unmöglich ist; die wunderlichsten Behauptungen werden vorgebracht, wobei die geheimnißvolle Person des „Unbekannten“ eine große Rolle spielt, namentlich wenn es sich um den Verkauf eines gestohlenen Gegenstandes handelt.

„Ein fremder Mann gab mir das Packet und bat mich, es zum Versatzamt zu bringen“ – oder: „Getroffen hatte ich ihn schon ’mal, den Mann, der mir die Uhr zum Kaufe anbot, die ich denn bald wieder losschlug; wir hatten ’mal ein Glas Bier zusammen getrunken, seinen Namen weiß ich aber nicht!“

Wie weit die Frechheit des Lügens geht, zeigt folgender Fall. Ein alter, innerhalb der Gefängnißmauern grau gewordener Verbrecher war um Mitternacht in einer fremden Wohnung ergriffen worden, in die er durch das Parterrefenster eingestiegen war. Und was führte er als Grund seines gewaltthätigen Eindringens an? Er habe zufällig gehört, daß der Inhaber der Wohnung seinen Hund verkaufen wolle, den hätte er sich gern angesehen. –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_458.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2023)