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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Begegnung mit dem liebenswürdigen Frankfurter, der ihm seine ehrliche, warme Anerkennung so gewinnend ausgesprochen habe. So echtes Lob entschädige ihn für das Schweigen der Kritik und mache ihn glücklicher, als wenn es sein „Trompeter“ heute schon zur zehnten Auflage gebracht hätte.

Ich blieb stehen, sah ihm erstaunt ins Gesicht und fragte: „Aber warum hast Du denn nicht vor einer halben Stunde auch nur die Hälfte dieser schönen Worte, die Du mir jetzt sagst, dem freundlichen Fremden gesagt? Auch er würde sich dann ganz glücklich gefühlt haben, und jetzt hat er sich vermuthlich geärgert.“

„Habe ich denn nichts gesagt?“ fragte Scheffel ganz verwundert.

„Nein!“ rief ich, „gar nichts hast Du gesagt!“

„Dann habe ich eben geschwiegen,“ entgegnete er ganz trocken, „weil ich so vergnügt war.“

Unser nächstes Ziel, die Burg Reichenberg, war bald erreicht. Schon von ferne freuten wir uns des Anblicks der großartigen Ruine, die an malerischem Reiz der Thürme und Mauern die meisten Rheinburgen übertrifft; nur mangelt dem Vordergrunde der Schmuck des Stromes, denn Reichenberg erhebt sich etwa eine Stunde landeinwärts im Hügelland.

Aber gerade die einsame Lage des weltvergessenen Gemäuers lockte uns. Wir waren beide der Ansicht, daß zu einer wahrhaft schönen Gegend auch schöne, recht gründlich ruinierte Burgen gehören, „freie Burgen“, das heißt unbewohnte und unbewachte Trümmer, die dem Wanderer offen stehen, die wir beherrschen und auf eine Stunde unser eigen nennen, solange wir darin umherklettern, in alle Winkel kriechen und treiben, was wir wollen. Die freie Burg und der freie Wald, das waren so herrliche Wanderziele, die das heutige Geschlecht wenig mehr sucht und die freilich auch immer seltener zu finden sind.

Eine ganz „freie“ Burg war Reichenberg freilich auch schon damals nicht mehr. Am Eingang wohnte ein Pförtner, der uns ein neues, soeben vom Buchbinder gekommenes Fremdenbuch vorlegte, auf dessen erstes Blatt wir beide uns als die ersten einschrieben. Allein nachdem wir diesen Zoll entrichtet, hatten wir dann doch die Freiheit, uns nach Herzenslust in einem Labyrinth von Trümmern zu tummeln.

Wir suchten in dem alten Mauerwerk nach syrisch-fränkischer Architektur, nach maurischen Hufeisenbogen, nach Alhambraornamenten, wir suchten den Orient im Herzen der Niedergrafschaft Katzenelnbogen. Ich hatte Scheffel schon den ganzen Morgen lüstern gemacht nach dieser merkwürdigen Burg, die den Einfluß der Kreuzzüge auf den deutschen Burgenbau bekunde. Der mächtige Hauptthurm, auf dem Grundriß eines Vierpasses erbaut und also in vierfacher Rundung profiliert, oben mit einem Stachelkranze von horizontal weit hervorragenden Säulenbasalten phantastisch geschmückt, dünkte uns wenigstens von weitem sehr morgenländisch. Allein im Innern der Burg fanden wir zwar manche interessante Konstruktionen und Ornamente, die von der großartigen und reichen Anlage des alten Baues zeugten, die wir aber doch trotz allen Widerstrebens nur für abendländisch erklären mußten, bis ich zuletzt Scheffel darauf aufmerksam machte, daß bei den ältesten Bautheilen nirgends ein Rest oder Ansatz eines Giebels zu entdecken sei. Die Dächer seien in der That alle flach gewesen, flache, massiv gemauerte Dächer wie bei den Burgen der Kreuzfahrer in Syrien, auf Blanche-Garde bei Askalon, auf der Burg zu Saona. Wo die Wände aufhörten, da fange der Orient an.

Nachdem wir uns im Schatten des großen Thurmes gelagert hatten, erzählte ich, daß Graf Berthold von Katzenelnbogen den vierten Kreuzzug im Jahre 1204 mitgemacht habe und glücklich wieder heimgekehrt sei; da sei nun nichts wahrscheinlicher, als daß er sich diese stolzeste Burg seines Landes zum Andenken im orientalischen Stile habe bauen lassen.

Scheffel meinte, man lerne doch jeden Tag etwas Neues. Bisher habe er nur gewußt, daß Franzosen und Italiener den vierten Kreuzzug unternommen hätten, um in Konstantinopel sitzen zu bleiben und das „lateinische Kaiserthum“ zu gründen; nun erfahre er, daß doch auch ein deutscher hoher Herr dabei gewesen sei.

„Allein der Deutsche wurde todtgetheilt, als die Lateiner die Beute theilten,“ bemerkte ich dazu. „Die Venetianer erhielten die schönsten Inseln des griechischen Meeres zu Lehen, ein Lombarde Makedonien, der französische Kriegsberichterstatter, Villehardouin, Achaja, andere französische Ritter Athen und etliche weitere Städte; nur der deutsche Graf hat nichts gekriegt, und es wäre doch so schön gewesen, wenn Athen damals katzenelnbugisch geworden wäre.“

Scheffel meinte, der Graf Bertold sei dann wohl aus Verdruß wieder nach Haus gegangen und habe sich im Herzen Katzenelnbogens sein eigenes Konstantinopel gebaut, dieses Reichenberg mit den platten Dächern, dem nur ein Stückchen Bosporus fehle.

So gestalteten wir, wie im Duett herüber und hinüber spinnend und erfindend, ein phantastisches Gewebe von mittelalterlicher Romantik und modernem Humor, und Scheffel meinte zuletzt, das sei ein prächtiger Stoff zu einem lustigen Gedicht, und er wolle von Reichenberg und dem Katzenelnboger in Konstantinopel singen und sagen, sobald er wieder in der Stephanienstraße zu Karlsruhe sitze.

Ob er diesen Plan wirklich weiter verfolgt, ob er wenigstens irgendwelche Skizze niedergeschrieben hat? Ich weiß es nicht. Der Stoff wäre wenigstens echt Scheffelisch gewesen.

Als wir die Burg verließen und wieder an der Pförtnerwohnung vorbeikamen, erhob ich warnend den Finger und sprach: „Es ist gut, daß uns vorhin der Mann nicht belauscht hat, der das Fremdenbuch stiftete und dem die Burg gehört, Archivar Habel von Schierstein. Er hat Reichenberg vor dem schon begonnenen Abbruch gerettet, aber wenn er jetzt vor uns stände, würde er den ganzen romantischen Aufbau Deines geplanten Gedichtes schonungslos umreißen und Dir erklären, daß jener Bertold, der allerdings Herr dieser Lande war und den vierten Kreuzzug mitgemacht hat, Reichenberg gar nicht erbaut habe, sondern vielmehr Wilhelm, ein anderer Graf seines Hauses, und zwar hundert Jahre später. Es wäre dann ein neues Räthsel, wie Graf Wilhelm lange nach den Kreuzzügen zu der orientalischen Bauweise seiner Burg gekommen sei, und wir könnten ihn zu diesem Zwecke etwa eine Pilgerfahrt ins gelobte Land machen lassen. Vielleicht würdest Du nun aber noch lieber den kritischen Archivar Habel selbst besingen, der die Burgen rettet und die Burgenpoesie vernichtet, einen alten Junggesellen, den leibhaften Jonathan Oldbuck. Walter Scotts Alterthümler ins Deutsche übersetzt, der eine ganze Anzahl schöner Burgen sein eigen nennt, auf denen er sich hier und dort ein kleines Stübchen hergestellt hat, um ab und zu einsame Tage in stiller Beschauung zu verbringen.“

Scheffel meinte, die kritischen Einwände des Archivars würden ihn gar nicht stören; als Poet habe er das unumschränkte Recht, die Burg Reichenberg durch den Grafen Bertold hundert Jahre vor ihrer Erbauung erbauen zu lassen, allein er werde den Archivar Habel auch in das Gedicht bringen und das Dörfchen Reichenberg dazu, für welches der Burgherr Stadtgerechtsame von Kaiser Ludwig dem Bayern erwirkt und das es trotzdem in einem halben Jahrtausend nicht einmal zu einem ordentlichen Wirthshaus gebracht habe. Er brummte noch eine Weile über diese urkundlichen Privilegien und das mißrathene Dorf; denn es war sehr heiß geworden und wir hatten großen Durst. Wir begannen darum so schnell wie möglich nach dem gastlicheren Sankt Goarshausen zurückzugehen.

Als wir uns aber nach einer Strecke Wegs noch einmal nach der Burg umschauten, fand Scheffel das Bild so wunderschön, daß er sich unter den nächsten Baum setzte und fast eine Stunde lang trotz allen Durstes Burg und Landschaft sorgsam zeichnete.

Ich spann während der unerwarteten Rast an meinen Gedanken über die prächtigen Ruinen weiter; der Pförtner kam mir sehr glücklich vor, der Jahr um Jahr in der Burg und mit der Burg wie mit einer treuen Freundin leben durfte. Ich beschloß, eine Novelle zu schreiben, worin ein so verfallenes Mauerwerk das Glück und Geschick eines sonst aller Glücksgüter ledigen guten Menschen bestimme, und so entstand in mir der Plan zu der Novelle „Burg Neideck“, den ich dann nach meiner Gewohnheit jahrelang in mir herumtrug, bevor ich ihn ausführte.

Einige Monate nach unserer Rheinfahrt überraschte mich Scheffel durch die Zusendung einer großen, in Sepiatönen wirksam angetuschten Zeichnung. Sie stellte die Burg Reichenberg im freien Stil einer historischen Landschaft dar, ein charakteristisches Blatt, welches betrachtenswerth wäre, auch wenn es Scheffel nicht gezeichnet hätte. Als theueres Andenken an den Freund hängt es heute noch unter Glas und Rahmen in meinem Zimmer, seine Nachbildung wird auch den Lesern der „Gartenlaube“ nicht unwillkommen sein.

Des andern Morgens zogen wir von St. Goarshausen rheinabwärts. Es war Sonntag, kein Wölkchen trübte das Himmelsblau, die Glocken läuteten von ferne, und als sie verstummten,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_475.jpg&oldid=- (Version vom 5.9.2023)