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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

war es so still ringsum, daß man nur das leise Rauschen des wirbelnd fluthenden Stromes hörte.

Als wir an dem ehemaligen Kapuzinerkloster Bornhofen vorübergingen, welches im Laufe der Zeit ein Wirthshaus geworden war, beschlich mich eine Erinnerung aus vergangenen Tagen, und ich erzählte sie dem Freunde; denn wir hatten uns lange genug angeschwiegen im stillen Genießen des herrlichen Morgens am Rhein.

Vor sechzehn Jahren war ich auf meiner ersten akademischen Herbstferienreise einsam dieselbe Straße gewandert; mit selbsterworbenen zehn Gulden in der Tasche hatte ich eine Reise von Weilburg nach Frankfurt, von dort zum Rheine und stromab bis Oberlahnstein und dann die Lahn hinauf zurück nach Weilburg unternommen. Als ich an einem frischen Septembertage um zwölf Uhr gegen Bornhofen kam, war ich gesättigt von Naturgenuß, aber sehr hungrig im Magen. Ich ging darum in das Kloster und begehrte zum Mittagessen einen Teller Suppe und einen Schoppen Wein; denn mehr duldete meine Börse nicht. Der Wirth, eine weit vornehmere Erscheinung als ich, sah mich etwas verwundert an, brachte aber doch das Bestellte, indem er den Teller mit unnachahmlichem Schwung gleichsam auf den Tisch warf und den Schoppen mit festem Stoß daneben pflanzte, und rief. „Da haben Sie Ihre Suppe!“ Er schien fast gewünscht zu haben, daß ich etwas mehr bestellt hätte, und ich hätte gewünscht, daß etwas Brot oder ein wenig Gemüse oder gar einige Stückchen Fleisch in der Suppe geschwommen wären, allein es war nur reinste, klare Fleischbrühe – bouillon clair. Ich aß mit bestem Appetit, sofern man eine lautere Flüssigkeit essen kann, trank meinen Wein, zahlte meine Zeche und ging gehobenen Muthes weiter.

Doch bald regte sich der Wunsch nach etwas festerer Speise. Ich trat darum in Camp in eine Bäckerstube und begehrte für einen Kreuzer Schwarzbrot. Der Bäcker sprach mir freundlich zu, während er ein großmächtiges Stück, fast den halben Laib, herunterschnitt. Ich meinte, das sei viel zu viel für einen Kreuzer, allein er entgegnete, es sei gerade recht, er habe verschiedene Taxen. Er hielt mich offenbar für einen wandernden Handwerksburschen, und da er sich mehr zu nehmen weigerte, zahlte ich meinen Kreuzer, steckte das Brot in mein Täschchen und setzte mich vor dem Dorf in den Schatten eines Nußbaumes. Und während ich dort vergnüglich von dem guten frischen Brot schmauste, gingen mir Kinkels sinnige Verse vom Brot und Wein – vom „Abendmahl der Schöpfung“ – durch die Seele. Dem Nußbaum gegenüber stand aber ein alter bemooster Heiligenstock, und als ich mich sattgegessen hatte, zeichnete ich den alten Stein mit den fernen Thürmen von Boppard im Hintergrunde und war vielleicht der vergnügteste „Rheinreisende“ des ganzen Tags.

Dies alles erzählte ich Scheffel, während wir von Bornhofen rheinab pilgerten, und meinte, es sei mir doch bis jetzt recht gut gegangen im Leben. Und wir standen zuletzt vor demselben Heiligenstock, den ich vor sechzehn Jahren gezeichnet hatte, und jenseit des Flusses glänzten die Thürme von Boppard im hellsten Sonnenlicht.

Da fiel mir plötzlich ein, daß ich im vergangenen Frühjahr den Honoratioren von Boppard einen Besuch versprochen habe. Ich hatte das Versprechen inzwischen ganz vergessen gehabt, jetzt aber sagte ich Scheffel, es wäre doch prächtig, wenn ich in Gemeinschaft mit ihm meine Zusage erfüllte; wir wollten einen Fährmann suchen, daß er uns nach Boppard übersetze, es sei bald elf Uhr, die passendste Besuchsstunde.

Scheffel fragte verwundert, wen ich denn eigentlich besuchen wolle. Ich erwiderte, das wisse ich selbst nicht genau, ich kenne keinen Menschen in Boppard, nicht einmal dem Namen nach; es sei eben die „gebildete Gesellschaft“, es seien die Honoratioren von Boppard, denen unser Besuch gelte.

Und nun berichtete ich Folgendes:

Im vergangenen Frühjahr hatte ich eine „Adresse“ aus Boppard erhalten, bedeckt mit vielen Unterschriften, es war die erste Adresse, die ich in meinem Leben erhielt, und ist auch die letzte geblieben. Ein Verein, ein Kasino, dessen Namen ich vergessen, hatte während des Winters meine „Familie“ und die „Kulturgeschichtlichen Novellen“ gelesen und so viele Freude daran gefunden, daß sämmtliche Mitglieder mir ihren Dank auf einem Foliobogen aussprachen und mich baten, ihr Gast zu sein, wenn ich einmal nach Boppard komme. Unterzeichnet waren der Bürgermeister, Beamte, Geistliche beider christlicher Bekenntnisse, der Rabbiner, Aerzte, Lehrer, Kaufleute, kurzum, wie es schien, die Spitzen der gebildeten Gesellschaft. Ich hatte sofort mit einem Dankbrief geantwortet und am Schlusse gesagt, wenn mich mein Weg je wieder nach Boppard führen sollte, so würde ich der freundlichen Einladung Folge leisten. Und heute erinnerte mich der Anblick der Thürme der Stadt plötzlich wieder an das ganz vergessene Versprechen.

Scheffel, der es sonst durchaus nicht liebte, bei fremden Leuten Besuche zu machen, war ganz entzückt von meinem Gedanken, und wir fuhren sofort über den Rhein. Erst auf dem Wasser kam uns das Bedenken, an welcher Thür wir denn eigentlich anklopfen sollten; denn ich wußte ja keinen Namen mehr. Da ich mich aber ganz bestimmt entsann, daß der Bürgermeister an der Spitze der Unterzeichner gestanden habe, so beschlossen wir zum Bürgermeister zu gehen und uns dort zu melden. Wir trafen ihn auch zu Haus, einen sehr artigen Herren in den besten Jahren. Ich stellte uns beide vor und sagte, wir seien auf flüchtigem Durchmarsch, allein ich könne mir doch nicht versagen, mein Versprechen zu erfüllen, ihn persönlich zu begrüßen und meinen schriftlichen Dank mündlich zu wiederholen mit der Bitte, daß er denselben auch den anderen Herren vermitteln möge.

Der Bürgermeister ließ jedoch einen so kurzen Besuch nicht gelten: wir möchten wenigstens bis morgen bleiben und die Gäste des Vereins sein; er werde sofort alle die übrigen Unterzeichner von unserer Anwesenheit in Kenntniß setzen. Es bedurfte keiner großen Ueberredung, uns seinem Wunsche willfährig zu machen, und es ging nun alles so planmäßig Schlag auf Schlag, als ob man unsere Ankunft just auf diesen Tag und zu dieser Stunde längst erwartet hätte.

Wir wurden in der Kaltwasserheilanstalt Marienberg einquartiert, einem ehemaligen Kloster, welches sich auf einer Anhöhe oberhalb der Stadt erhebt. Unsere Zimmer waren kühl und luftig, die Aussicht entzückend, unser Wirth fein gebildet und herzlich, seine junge Gemahlin schön und liebenswürdig; der Arzt der Anstalt gesellte sich hinzu, uns in artigster Weise die Honneurs zu machen. Wir waren wie im Paradies.

Als wir am Familientische speisten, ließ ich unwillkürlich mein Auge durch das offene Fenster zum Rhein und zum gegenüberliegenden Ufer schweifen. Scheffel errieth meine Gedanken und konnte nicht umhin, der Gesellschaft mein Abenteuer vor sechzehn Jahren in drolligster Weise zu erzählen, und indem er das ehemalige Kloster Bornhofen drüben im Thale mit dem Kloster hier oben auf dem Berge verglich, welches zwar kein Wirthshaus geworden sei, aber das gastlichste Asyl für Kranke und Gesunde, stießen wir zum Schluß auf das Wohl unserer freundlichen Wirthe an.

Ich habe Scheffel niemals so aufgethaut gesehen wie an diesem Tage.

Nach Tisch betrachteten wir unter kundiger Führung die Stadt und begaben uns dann zum Bürgermeister, wo wir bereits eine große Zahl von Herren versammelt fanden, die uns erwarteten. Man hatte die glücklichste Form gewählt, uns die landschaftlichen Reize Boppards zu zeigen und zugleich in zwanglosester Weise mit einander zu verkehren: einen gemeinsamen Waldspaziergang zu einer freien Bergeshöhe. Dort lagerten wir uns behaglich und überblickten Stadt und Thal und Fluß im reichsten Gesammtbilde. Wir blieben droben bis gegen Abend in heiterem Gespräch und im Genusse der herrlichen Natur. Es wurden keine Reden gehalten, keine Trinksprüche ausgebracht, was auch nicht möglich gewesen wäre, da wir nichts zu trinken hatten; wir bewegten uns wie Freunde unter alten Freunden. Von Scheffel hatten die Bopparder bis dahin offenbar noch nichts gewußt, aber sie lernten ihn jetzt von seiner liebenswürdigsten Seite kennen. Mein Name war damals bekannter in Deutschland als der Name Scheffels; heute ist es umgekehrt. Ich empfahl den Herren Scheffels „Trompeter“ und „Ekkehard“ zur nächsten Winterlektüre, und sie werden es nicht bedauert haben, daß sie den Dichter früher kennengelernt hatten als seine Dichtungen. Hoffentlich haben sie auch nicht bedauert, daß sie bei mir den Autor später kennenlernten als seine Bücher.

Wir stiegen herab ins Thal, um zunächst wieder in eine Kaltwasserheilanstalt geführt zu werden, in das Mühlbad am unteren Ende der Stadt. Hier sollten wir uns vorläufig durch einen Trunk Wein erfrischen. Allein der Besitzer der Anstalt empfing uns, weit über das Programm hinausgreifend, mit einem vollständigen Abendessen, welches wir uns trefflich schmecken ließen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_476.jpg&oldid=- (Version vom 5.9.2023)